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Fortsetzung Schmerz-Selbsthilfe per Youtube – wie gut sind die Videos?

Korrekte Diagnose ist Voraussetzung

Eine korrekte pathoanatomische Diagnose ist also relevant, weil dadurch einerseits entschieden werden kann, welche Therapie notwendig ist. Andererseits weil durch die Diagnose und beispielsweise den Schweregrad eine Prognose auf den Verlauf möglich ist, beispielsweise ob ein phasenhafter Verlauf zu erwarten ist, ob die Beschwerden selbstlimitierend sind oder wann mit Besserung zu rechnen ist.

Für den Behandler, z. B. den Physiotherapeuten, ist die pathoanatomische Diagnose besonders zu Beginn einer Behandlung von Bedeutung, da sie anhand der Biologie gewissenmaßen den Fahrplan vorgibt, mit dem in die Behandlung gestartet wird. Im Verlauf der Behandlung wird die ursprüngliche Diagnose unwichtiger, weil der Physiotherapeut die individuell (noch) vorhandenen Funktionseinschränkungen (z. B. Kraft- oder Flexibilitätsdefizit) optimalerweise evidenzbasiert behandelt.

Qualität versus schnelle Versprechungen?

„Von den angesehenen Videos finden sich die besten Informationen und die mit der höchsten Evidenz bei E3 Rehab“ (2), stellt Prof. Reuter fst. E3 Rehab wird von drei studierten Physiotherapeuten aus Kanada betrieben. Die Videos zeichnen sich dadurch aus, dass die medizinischen Grundlagen ebenso gezeigt werden, wie aktuelle Forschungsergebnisse, evidenzbasierte Übungen mit Angaben der Übungsintensität, aber auch weitere Tipps zu Lebensstilinterventionen. Zudem vermitteln die Betreiber keine falschen Erwartungen, was Dauer und Linderungsgrad der Beschwerden angeht. Im Gegensatz zu Videos anderer Anbieter, sind die Videos und Empfehlungen von E3 Rehab „anstrengend“. Hier wird kein Erfolg in wenigen Minuten versprochen.

Qualitäts-Stempel für gute Trainingsvideos

Dass es schwierig ist, sich im Dschungel der Gesundheitsinformationen zurecht zu finden, hat auch das British Journal of Sports Medicine (BJSM) erkannt. Es vergibt seit einiger Zeit einen Stempel (bjsm Education Stamp of Approval) für „empfehlenswerte“ Veranstaltungen der Sport- und Bewegungsmedizin und Sportphysiotherapie. Daneben gibt es „BJSM approved“ Videos mit Übungs- und Trainingsempfehlungen für derzeit (Stand Oktober 2021) zwei Bereiche: Eines zur Prävention von Schulterverletzungen in Wassersportarten, produziert vom Weltschwimmverband FINA (4), ein weiteres zum Krafttraining für ältere Personen (9). Die Idee ist gut, ein Qualitätssigel für evidenzbasierte und gute Gesundheitsinformationen oder Trainingsempfehlungen bei Beschwerden zu vergeben. Doch wenn die Entscheidung darüber in den Händen einer einzigen Zeitschrift liegt, ist das problematisch.

Intention der Anbieter

Wie können denn Betroffene gute Informationen finden? Die Anzahl der Abonnenten oder Follower bzw. die Anzahl der Likes ist per se kein Qualitätskriterium. Im Gegenteil! Eine aktuelle Untersuchung von 50 Youtube-Videos zu Rückenschmerzen zeigte, dass beliebtere Videos (anhand der Anzahl an Likes) schlechtere Qualitätswerte aufwiesen als weniger beliebte Videos (5).

Ein Aspekt ist auch, welche Absichten die Anbieter der Informationen oder Videos verfolgen. Eine Klinik, ein Arzt oder Physiotherapeut verfolgt wahrscheinlich mit der Präsentation im Internet das Ziel, die eigene Expertise zu zeigen und neue Patienten zu gewinnen. Andere Anbieter zeigen in den Videos Produkte (z. B. Faszienrollen, Gummibänder), die sie vertreiben. Zusätzlich dient das kostenlos verfügbare Angebot häufig als Teaser für kostenpflichtige (Online-) Trainings- oder Therapieprogramme.

Subjektiv hilfreich

Aber sind nicht evidenzbasierte Programme wie beispielsweise von Liebscher & Bracht deswegen schlecht oder schädlich? „Der Nutzen solcher Programme ist schwer nachweisbar. Für die meisten gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die die Aussagen und Erfolgsversprechen belegen. Doch auch die empirische Forschung mit großen Datensätzen bildet die Realität nicht komplett ab. Der Nutzen für den einzelnen Patienten wird ausgeblendet. Es gibt sicher Patienten, die profitieren“, erklärt Prof. Reuter. „Dabei ist es oft nicht entscheidend, ob eine Übung zu 100 Prozent korrekt ausgeführt wird. Wichtiger ist die Frage nach den Grundsätzen der Therapie, warum etwas gemacht werden soll.“ Ansonsten besteht durchaus die Möglichkeit, Beschwerden zu verstärken.

■ Hutterer C

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