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Fortsetzung Prävention von Lawinenunfällen

Macht ein Lawinenairbag leichtsinniger?

Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit gibt es in Fachkreisen anhaltende Bedenken gegenüber Lawinenairbags. Diese beziehen sich auf die Sorge, dass der positive Effekt aufgehoben oder sogar ins Negative verkehrt werden könnte, weil die Sportler im Vertrauen auf ihr buchstäbliches »Backup« bewusst oder unbewusst eine höhere Risikobereitschaft entwickeln. Bekannt ist dieses Phänomen, nach dem Menschen Risiken eher optimieren, statt sie zu minimieren, unter dem Begriff Risikokompensation. Dr. Pascal Haegeli arbeitet mit seiner Arbeitsgruppe an der Schnittstelle zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. »Wir fragen uns, wie Menschen Entscheidungen treffen«, sagt er.

Im Rahmen einer Untersuchung haben er und sein Team 163 Airbag-Besitzer und 243 Skitourengeher oder Freerider ohne Airbag in einer Online-Umfrage mit unterschiedlichen Szenarien konfrontiert (5). Dabei wurde den Teilnehmern jeweils gesagt, ob sie auf dieser Tour einen Airbag dabeihaben oder nicht. Zusätzlich wurde die Risikoeinstellung der Teilnehmer anhand der Zustimmung zu neun Aussagen wie »Ich gehe gerne ans Limit« oder »Für mich gilt: je steiler der Hang, desto größer das Vergnügen« analysiert. Es ergaben sich drei Gruppen: 27 Prozent suchten vor allem den Nervenkitzel und unbefahrene Hänge, 30 Prozent gaben an, konservativ zu agieren, und 43 Prozent wurden zwischen diesen beiden Gruppen eingeordnet. »Die Tendenz, die wir beobachten konnten, war, dass Airbag-Besitzer ohne das Equipment vorsichtiger oder konservativer handeln würden, während Nicht-Besitzer etwas mutiger würden, wenn ihnen gesagt wird, sie haben einen Airbag dabei«, erzählt Haegeli. Außerdem zeigte sich, dass die risikofreudigste Gruppe nach dem Kauf pro Expositionsjahr 0,045-mal in Lawinenunfälle involviert war. Ein signifikanter Anstieg: Vorher lag die Rate bei 0,006-mal.

Diese Ergebnisse deuten an, dass mit Lawinenairbag tendenziell die Risikobereitschaft steigen könnte. Sie zeigen jedoch auch, dass sich die Käufer von den Nichtkäufern deutlich unterscheiden: Airbag-Käufer sind eher stärker in den Sport involviert und eher fortgeschrittener. Unter ihnen gibt es einige, die anspruchsvolles Gelände bewusst aufsuchen. »Wir konnten zeigen, dass besonders diese Gruppe auch das Risiko sucht. Mit einem Airbag versuchen sie dann, es etwas beherrschbarer zu machen. Aus unserer Sicht wäre es wichtig, diese Gefahr bei Lawinenkursen und in den Gebrauchsanweisungen der Airbags anzusprechen, um es den Menschen bewusst zu machen. Es kann in Gruppen zu der Entscheidung kommen, dass derjenige, der einen Airbag hat, als erstes den Hang befahren soll«, erläutert Dr. Haegeli.

Lawinenschutzausrüstung, Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), Sonde, Schaufel.
Persönliche Schutzausrüstung: Zur absolut notwendigen Schutzausrüstung im freien Gelände gehören ein Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), eine Sonde und eine Schaufel. © lilkin / Adobe Stock

Erfahrung schützt nicht vor Fehlern

Eine Untersuchung aus der Schweiz hat die Charakteristik der Lawinentoten zwischen 1995 und 2014 analysiert (1). Brachte man die soziodemografischen Faktoren der Schweizer Gesamtbevölkerung (Swiss National Cohort) über einen Zeitraum von 20 Jahren in Korrelation mit Daten der 250 Lawinenopfer, zeigte sich eine signifikant höhere Betroffenheitsrate unter jüngeren bis mittelalten Männern (15 bis 45 Jahre) mit höherem Bildungsgrad und hohem sozioökonomischem Stand. Diese Eigenschaften spiegeln wahrscheinlich das typische Profil von Skitourengehern und Variantenfahrern wider.

Interessant ist zudem die Beobachtung, dass Alpenvereinsmitglieder ein etwa doppelt so hohes lawinenbedingtes Sterberisiko haben wie Nicht-Mitglieder (7). Das erscheint paradox, denn gerade diesen Personen würde man mehr lawinenkundliches Wissen zuschreiben. Doch deckte unter anderem eine Umfrage unter Skitourengehern auf, dass besonders die Erfahrenen ihr Wissen eher überschätzen (10) – möglicherweise wiegen sie sich in einem Gefühl falscher Sicherheit. Daneben kann nicht ausgeschlossen werden, dass unter Alpenvereinsmitgliedern eine beträchtliche Anzahl Nervenkitzel im freien Gelände suchen.

Fazit: Lawinen stellen beim Wintersport im Gebirge eine kaum vermeidbare Gefahr dar. Verschiedene Methoden der Vorbereitung und Ausbildung sowie gutes Equipment können dazu beitragen, die Gefahr für einen Lawinenabgang, eine Verschüttung und fatale Ausgänge zu minimieren. Entscheidend ist jedoch ganz besonders das eigene Bauchgefühl und der Mut, im richtigen Moment Bedenken gegenüber Tourenpartnern laut auszusprechen – auch wenn das eventuell Umkehren bedeutet.

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Berlin C, Techel F, Moor BK, Zwahlen M, Hasler RM; Swiss National Cohort study group. Snow avalanche deaths in Switzerland from 1995 to 2014-Results of a nation-wide linkage study. PLoS One. 2019; 14: e0225735. doi:10.1371/journal.pone.0225735

  2. Boyd J, Haegeli P, Abu-Laban RB, Shuster M, Butt JC. Patterns of death among avalanche fatalities: a 21 year review. Canadian Medical Association Journal. 2009; 180: 507-511. doi:10.1503/cmaj.081327

  3. Brugger H, Durrer B, Adler-Kastner L, Falk M, Tschirky F. Field management of avalanche victims. Resuscitation. 2001; 51: 7-15. doi:10.1016/s0300-9572(01)00383-5

  4. Haegeli P, Falk M, Procter E, Zweifel B, Jarry F, Logan S, Kronholm K, Biskupič M, Brugger H. The effectiveness of avalanche airbags. Resuscitation. 2014; 85: 1197-203. doi:10.1016/j.resuscitation.2014.05.025

  5. Haegeli P, Rupf R, Karlen B. Do avalanche airbags lead to riskier choices among backcountry and out-of-bounds skiers? J of Outdoor Recreation and Tourism. 2019. doi:10.1016/j.jort.2019.100270

  6. Larcher M. stop or go. BergUndSteigen. 2012; 4: 54-63. https://www.bergundsteigen.at/file.php/archiv/2012/4/54-63%20%28stoporgo%29.pdf

  7. Niedermeier M, Gatterer H, Pocecco E, et al. Mortality in Different Mountain Sports Activities Primarily Practiced in the Winter Season-A Narrative Review. Int J Environ Res Public Health. 2019; 17: 259. doi:10.3390/ijerph17010259

  8. Österreichisches Kuratorium für alpine Sicherheit. analyse:berg – jahrbuch Winter 2018/19: 46.

  9. Österreichisches Kuratorium für alpine Sicherheit. analyse:berg – jahrbuch Winter 2019/20: 64-69.

  10. Österreichisches Kuratorium für alpine Sicherheit. Endbericht einer Skitourengeher-Befragung im Winter 2014/15.

  11. Paal P, beikircher W, Brugger H. Der Lawinen­notfall. Anaesthesist. 2006; 55, 314–324. doi:10.1007/s00101-006-0997-4

  12. SnowCard. https://www.alpenverein.de/Bergsport/Sicherheit/Winter/Snowcard/ Abgerufen [2.11.2020]

  13. Universität Freiburg. Lawinengefahrenentscheidungshilfen. http://www.nuf.uni-freiburg.de/downloads/lawinengefahrentscheidungshilfen Abgerufen [2.11.2020]