Multimodale Ansätze in der Adipositastherapie

Multimodale Ansätze in der Adipositastherapie
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Die Deutschen werden immer bewegungsloser und immer dicker. Spätestens der letzte Gesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts rechtfertigt den Begriff »Adipositas-Epidemie« endgültig: Mehr als die Hälfte der Erwachsenen sind hierzulande übergewichtig oder adipös (7). Im Kampf gegen dieses im wahrsten Wortsinne schwerwiegende Problem müssen die verschiedenen medizinischen Disziplinen enger zusammenrücken. Eine Adipositas besteht laut WHO ab einem BMI von ≥ 30. Je nach Ausprägung wird nochmals in verschiedene Schweregrade unterteilt: Grad I (BMI ≥ 30), Grad II (BMI ≥ 35) und Grad III (BMI ≥ 40). Studien zeigen, dass bei übergewichtigen Männern das Risiko für Typ-2-Diabetes siebenfach, bei Frauen zwölffach erhöht ist. Ähnlich alarmierende Werte sind u. a. bei Koronarer Herzkrankheit, Depression sowie manchen Krebs-, Leber-, Nieren- und Gelenkerkrankungen zu verzeichnen. Viele Medikamente müssen bei Adipösen höher dosiert werden, und manche Infekte verlaufen bei ihnen heftiger (6). Aktuell ist zudem die mit fortschreitendem Alter erhöhte systemisch-inflammatorische Aktivität im Gespräch, das sogenannte Inflammaging, welches an der Pathogenese zahlreicher Krankheiten beteiligt ist. Adipositas ist einer der bekannten Faktoren, die das Inflammaging über bestimmte Mechanismen in den Adipozyten beschleunigen und verstärken (5).

Besonders bedrohlich sind Stoffwechselkomplikationen wie das sogenannte Metabolische Syndrom, dem ein hoher Anteil an abdominellem Fett nachweislich Vorschub leistet. Das Syndrom macht sich durch dauerhaft erhöhte Triglycerid-, Nüchternblutzucker- und Blutdruck- sowie erniedrigte HDL-Cholesterinwert bemerkbar. Die Kombination dieser Parameter nennt man nicht umsonst »tödliches Quartett«: Gemeinsam schrauben sie das Risiko für eine Arteriosklerose mit ihren oft tödlichen Folgeerscheinungen in ungeahnte Höhen. All diese Faktoren – samt ihren monetären Auswirkungen – zeigen auf, wie dringlich das Thema Adipositas für Medizin und Gesellschaft geworden ist.

Adipositastherapie: Ernährungs- und Sportmedizin Seite an Seite

Es gilt die Regel: Um ein einziges Kilo Gewicht abzunehmen, müssen satte 7000 Kalorien eingespart bzw. verbrannt werden. Umfangreiche Gewichtsreduktionen sind also weder durch Diät noch durch Sport allein zu erreichen. »Adipöse Menschen stecken auf vielen Ebenen in einer unguten Spirale«, sagt Prof. Peter Deibert vom Institut für Bewegungs- und Arbeitsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg. »Chronisches Übergewicht und Trainingsmangel führen bereits bei geringer sportlicher Intensität zu Kurzatmigkeit bei gleichzeitig hoher Belastung für die Gelenke.« Weil Diät schnellere Abnehmerfolge zeitigt, aber nur körperliche Aktivität diese festigt, ist eine multifaktorielle Lebensstilinterven­tion unumgänglich. Geduld ist dabei ebenso gefragt wie Konsequenz und natürlich gute Betreuung. Bariatrischen Eingriffen gegenüber hat Prof. Deibert in den letzten Jahren seine Meinung deutlich verändert: »Zwar sollte sie nur zum Zug kommen, wenn alle konservativen Methoden ausgeschöpft sind, die die Deutsche Adipositas Gesellschaft in ihrer entsprechenden Leitlinie zusammengefasst hat (2). Doch für ausgewählte Patienten kann nur eine solche OP plus lebenslange ärztliche Kontrolle die schlimmen Spätfolgen abwenden – und das sehr effizient.«

Prof. Dr. Peter Deibert, Ärztlicher Leiter Institut für Bewegungs- und Arbeitsmedizin, Universitätsklinikum Freiburg © Deibert
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Hauptsache in Bewegung kommen

»Die Art der Bewegung ist nicht allzu entscheidend«, so Prof. Deibert. »Sie muss nur zum Patienten passen und Spaß machen, sonst lässt er es bald wieder. Aber natürlich empfehle ich bei hohem BMI eher gelenkschonende Sportarten wie Aquagymnastik oder Fahrradfahren statt Joggen oder Gewichtheben. Das Training sollte mindestens in der Anfangsphase professionell angeleitet sein, auch um Verletzungen zu vermeiden. Das ‚Rezept für Bewegung‘ ist dafür ein gutes Werkzeug.« Weil nachweislich auch Krankheitsbilder wie Insulinresistenz und nichtalkoholische Fettleber (NAFL) auf eine Lebensstil-Intervention gut ansprechen (4), sollte mit entsprechenden Verordnungen nicht gespart werden.

In jedem Fall befürwortet Prof. Deibert eine umfangreiche sportmedizinische Voruntersuchung zum Ausschluss von Risiken sowie zur Festlegung der individuell notwendigen Trainingsintensität; hier können etwa die von Krankenkassen geförderten Sportler-Check-ups in Anspruch genommen werden. Um eventuelle schädliche Verhaltensmuster zu erkennen und die Motivation zu stärken, kann man schließlich noch – besonders bei sehr hohem BMI – eine psychologische Begleitung hinzuziehen.

Entscheidender Faktor Compliance

Bezüglich der Ernährungsumstellung gilt Ähnliches. »Allzu strenge Vorschriften sind meist kontrapoduktiv!«, weiß Dr. Christina Holzapfel vom Institut für Ernährungsmedizin an der TU München. »Wenn Sie jemandem, der sehr gerne Brot oder Kartoffeln isst, ausgerechnet eine Low-Carb-Diät verordnen, wird er bald frustriert aufgeben.« Dr. Holzapfel begrüßt deshalb aktuelle Studien, die zeigen, dass jede konsequente Kalorienreduktion irgendwann zum Ziel führt (3). Sie hat gute Erfahrungen mit kleinteiliger Individualberatung anhand von Ernährungsprotokollen gemacht. Damit spürt man die oben genannten Stolperfallen auf und kann machbare und dennoch wirksame Lebensmittelalternativen vorschlagen. Nur das sichert die langfristige Kooperation mit den Patienten.

Adipositas als eigenständige Krankheit etablieren

Beharrlichkeit und engmaschiger Patientenkontakt sind also gefragt. Aber wer bezahlt die Experten, die hier wachsam sein, untersuchen, beraten und begleiten sollen? »Ein Riesenproblem«, sagt Dr. Holzapfel. »Adipositas ist in Deutschland noch immer nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. Deshalb fallen Patienten erst einmal durch alle Raster, zum Beispiel werden sie vom Hausarzt oft viel zu spät auf ihr zu hohes Gewicht oder schlechte metabolische Werte angesprochen. Ambulante Abnehmprogramme müssen Betroffene dann zumindest anteilig aus eigener Tasche bezahlen, und die Vergütung für medizinische Experten bleibt sowieso weitgehend auf der Strecke. Hier muss sich dringend etwas tun!«

Vorstöße in diese Richtung wie etwa die Aufnahme eines Adipositas-Moduls in den Hausarztvertrag der AOK Baden-Württemberg oder einige Ansätze der DAK-Gesundheit für ein gänzlich neues Versorgungskonzept (1) sind ein Anfang. Es beginnt jedoch schon mit der fatalen Meinung vieler Patienten, ihr Übergewicht sei quasi Privatsache – was automatisch eine ungenügende medizinische Behandlung nach sich zieht. Der Weg zur dringend notwendigen Status­änderung des Krankheitsbildes »Adipositas« birgt also viele Herausforderungen.

Dr. rer. nat. Christina Holzapfel, Ernährungswissenschaftlerin am Institut für Ernährungsmedizin der TU München, Klinikum rechts der Isar © Holzapfel
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Sonderfall kindliche Adipositas

Adipositas-Prävention muss so früh wie möglich im Leben einsetzen. Prof. Reinhard Holl vom Institut für Epidemiologie und medizinische Biometrie an der Universität Ulm sieht hier die gesamte Gesellschaft in der Verantwortung: »Viel hängt an dem Lebensstil, den man einem Kind vorlebt. Fehlt ein gutes Vorbild in Sachen Sport und Ernährung, kann zum Beispiel der Werbedruck der Medien viel größeren Schaden anrichten. Das ist vor allem in Familien mit niedrigem Bildungsstand und Einkommen problematisch. Kontrollmechanismen wie Zuckerverbote, mehr Schulsport und Ähnliches wären höchst angebracht, lassen aber leider auf sich warten.

« Eine Chance, Betroffene in Sachen Bewegung zu erreichen, sieht er am ehesten in Gruppenangeboten. »Wem Vereins- und Mannschaftssport zu leistungsorientiert sind, der ist vielleicht in der DLRG oder der Freiwilligen Feuerwehr gut aufgehoben. Das hat Fitness quasi im Gepäck, aber mit Spaß. Und bei manchen Sportarten wie etwa American Football oder Ringen ist hohes Körpergewicht alles andere als ein Ausschlusskriterium!« Ist die Adipositas manifest und eine Behandlung unumgänglich, gibt es als Alternative für längerfristige ambulante Interventionen auch stationäre Reha-Maßnahmen, im Idealfall mit entsprechend intensiver Nachbetreuung. Diese werden derzeit von 15 Einrichtungen in Deutschland angeboten und von der Rentenversicherung vermittelt. Dr. Holl: »Der kurzfristige Erfolg von Abnehm-Kuren ist oft sehr gut – die Herausforderung besteht dann darin, die Verhaltensänderung dauerhaft im Alltag fortzusetzen.«

Bild Reinhard Holl
Prof. Dr. med. Reinhard Holl, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Institut für Epidemiologie und medizinische Bio­metrie, Universität Ulm © Holl

»Wunderwaffe« Braunes Fettgewebe?

Dr. Tobias Fromme vom Else-Kröner-Fresenius-Zentrum der TU München forscht aktuell an Möglichkeiten, durch pharmakologische Intervention sogenanntes Weißes Fettgewebe zu aktivem Braunem Fettgewebe umzuwandeln. Dieses ist nämlich durch seine Wärmebildungskapazität (Thermogenese) ein Energiefresser und könnte damit die Adipositas-Therapie entscheidend beeinflussen. Da es außerdem Zucker aufnimmt, spielt es eine doppelt interessante Rolle in der Diabetesbehandlung. »Für eine quantitativ bedeutende Aktivierung der Wärmebildung im vorhandenen Braunen Fettgewebe durch Sport oder Diät sehe ich eher eingeschränktes Potenzial«, so der Wissenschaftler. Neueste Studien (9) würden aber zuversichtlich stimmen, dass sie künftig durch bestimmte Nahrungsmittel oder Pharmaka beeinflusst werden könnten. Doch auch dann, so viel steht fest, wird sportliche Aktivität weiterhin eine wichtige Säule der Behandlung darstellen.

Alles nur geerbt?

Dr. Fromme bestätigt, dass man sich auf ungünstigen Genen allein nicht ausruhen kann: »Natürlich ist die sogenannte monogene Adipositas, die von einem einzigen vererbbaren Allel verursacht wird und dann familiär gehäuft auftritt, nicht wegzudiskutieren. Aber selbst so ein Genotyp ist eine Prädisposition, keine Determinante. Kurz gesagt: Man kann nicht dick werden, wenn man dafür nicht genug isst und sich nicht wenig genug bewegt.« Darin gibt ihm unter anderen eine kürzlich veröffentlichte Studie Recht, die den Einfluss von »schlechten Genen« versus konsequent gesunder Ernährungsweise untersucht hat (8).

Fazit: Adipositas ist nicht nur eine Komorbidität, sondern sollte als eigenständiges Krankheitsbild gesehen und behandelt werden. Die Sportmedizin hat hier eine außerordentlich wichtige Funktion in Prävention und Therapie.

Bild Tobias Fromme
Dr. Tobias Fromme, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Molekulare Ernährungsmedizin der TUM, Else-Kröner-Fresenius-Zentrum/ZIEL © Fromme

 

Interdisziplinäre Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften sowie weiterführende Angebote und laufende Programme

Deutsche Adipositas Gesellschaft e.V. (DAG)
www.adipositas-gesellschaft.de

Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA)
www.aga.adipositas-gesellschaft.de

Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK)
www.dank-allianz.de

Adipositas-Patienten-Verlaufsdokumentation (APV) – Das Dokumentationsprogramm an der Universität Ulm vergleicht aktuelle Therapieangebote zur Adipositasbehandlung im Kindes- und Jugendalter
http://buster.zibmt.uni-ulm.de/apv

Ausbildung »Adipologe GGG« – Als Partner der DAG hat die neu gegründete Gesellschaft Gesundes Gewicht (GGG) eine spezialisierte Fortbildung für Mediziner zum Adipologen entwickelt. Die Ausbildung beinhaltet neben Modulen zu Ernährungswissenschaft und Psychologie auch den Bereich Sportmedizin
www.adipologe-ggg.de

■ Kura L

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Quellen:

  1. DAK-Gesundheit. Versorgungsreport Adipositas – Chancen für mehr Gesundheit. https://www.dak.de/dak/download/versorgungsreport-adipositas-1883220.pdf. Veröffentlicht November 2016. [aufgerufen am 14.9.2018]

  2. Deutsche Adipositas Gesellschaft. Interdiszipli­näre Leitlinie der Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipositas“. 2. Auflage, 2014. http://www.adipositas-gesellschaft.de/fileadmin/PDF/Leitlinien/050-001l_S3_Adipositas_Praevention_Therapie_2014-11.pdf [aufgerufen am 14.9.2018]

  3. Gardner CD, Trepanowski JF, Del Gobbo LC et al. Effect of Low-Fat vs Low-Carbohydrate Diet on 12-Month Weight Loss in Overweight Adults and the Association With Genotype Pattern or Insulin Secretion: The DIETFITS Randomized Clinical Trial. JAMA. 2018; 319: 667-679. doi:10.1001/jama.2018.0245

  4. Hashida R, Kawaguchi T, BekkiM et al. Aerobic vs. resistance exercise in non-alcoholic fatty liver disease: A systematic review. J Hepatol. 2017; 66: 142-152. doi:10.1016/j.jhep.2016.08.023

  5. Krüger K. Inflammation during Obesity – Pathophysiological Concepts and Effects of Physical Activity. Dtsch Z Sportmed. 2017; 68: 163-169. doi:10.5960/dzsm.2017.285

  6. Maier HE, Lopez R, Sanches N et al. Obesity Increases the Duration of Influenza A Virus Shedding in Adults. J Infect Dis. Aug. 2018; doi:10.1093/infdis/jiy370

  7. Robert-Koch-Institut. Gesundheit in Deutschland. 2016. doi:10.17886/rkipubl-2015-003

  8. Wang T, Heianza Y, Sun D et al. Improving adherence to healthy dietary patterns, genetic risk, and long term weight gain: gene-diet interaction analysis in two prospective cohort studies. BMJ. 2018; 360. doi:10.1136/bmj.j5644

  9. Yoneshiro T, Matsushita M, Saito M. Translational Aspects of Brown Fat Activation by Food-Derived Stimulants. Handb Exp Pharmacol. 2018. doi:10.1007/164_2018_159