Merkblatt: Sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Aspekte im Leistungssport in Zeiten der COVID-19-Pandemie
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Psychische und soziale Belastungen sind wie körperliche Belastungen fester Bestandteil des Leistungssports. Bis vor wenigen Jahren wurde angenommen, dass es im Leistungssport keine ernsthaften psychischen Probleme und Erkrankungen geben kann und das mentale Stärke gleichzeitig auch psychische Gesundheit bedeutet (3). Durch immer zahlreich werdende Veröffentlichungen wissen wir mittlerweile, dass psychische Belastungen und Erkrankungen häufige Gesundheitsprobleme im Leistungssport sind, die sich sportspezifisch manifestieren und die Leistung vermindern können (5). Erfolgreiche Spitzensportler lernten uns zudem mit ihren mutigen Interviews, dass ihre mentale Stärke und Wettkampfpersönlichkeit kein Garant für eine anhaltende psychische Gesundheit sein muss.
Im Editorial „Psyche und Sport in Zeiten von COVID-19“ wurde bereits auf die aktuellen Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit in der Allgemeinbevölkerung eingegangen (1), die natürlich genauso Leistungssportler betreffen. Die COVID-19-Pandemie stellt darüber hinaus für viele Leistungssportler weitere Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit dar (2, 6), auf die in diesem Merkblatt spezifisch eingegangen werden soll.
Spezifische Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit im Leistungssport in Zeiten der COVID-19-Pandemie [Auswahl]
– Änderung über Jahre und Jahrzehnte etablierter Tagesstrukturen und Gewohnheiten, oft von einem Tag auf den anderen.
– Isolation, Einsamkeit und Training fernab des gewohnten Umfelds und der Trainings- und Mannschaftskollegen.
– Unterbrechung der Wettkampfsaison und Absagen oder Verschiebungen von Grossanlässen sind verbundenen mit Verpassen von Zielen, „geplanten“ Erfolgen und führen zu Unsicherheit, monetären Unwägbarkeiten und Motivationsverlust.
– Ungeklärte Fragen nach dem Sinn des täglichen Handelns, welches normalerweise auf klare Ziele fokussiert und durch diese motiviert ist.
– Infragestellung von Vertragsverlängerungen, Wegfall von Sponsoren und Werbeinnahmen und damit verbundene existenzielle und finanzielle Ängste.
– Langfristiger Abfall der Leistungsfähigkeit aufgrund der eingeschränkten Trainingsmöglichkeiten mit den entsprechenden Konsequenzen.
Mögliche psychische Probleme und Erkrankungen in der aktuellen Situation
– Durch intensives Training, sportliche Erfolge und Anerkennung oft gut kompensierte subklinische psychische Probleme und Erkrankungen (wie Selbstunsicherheit, Angststörungen oder Depressionen) können in der aktuellen Situation manifest werden.
– Sorgen um die Fortsetzung der sportlichen Laufbahn und finanzielle Ängste, fehlende Tagesstruktur, wenige soziale Kontakte und Einsamkeit, und damit verbundener Stress können mit depressiven Verstimmungen und Schlafstörungen einhergehen.
– Die Gefahr eines schädlichen Substanzgebrauchs und der Suchtentwicklung, einschliesslich Verhaltenssüchte, wie zum Beispiel suchthaftes Videospielen (Gaming), sind dabei genauso zu berücksichtigen.
– In ästhetischen und gewichtsabhängigen Sportarten kann es zu starken Änderungen der Essgewohnheiten und Verschlechterung oder erstmals Auftreten eines gestörten Essverhaltens kommen.
– All diese oben genannten Beschwerden, die ernsthafter sind als Sorgen um die mentale Stärke, bedürfen einer qualifizierten Hilfe.
Sportler: „Was tun, wenn ich mich psychisch belastet fühle?“
– Festhalten an täglichen Routinen und bewusste Tagesstrukturierung, mit (kleinen) Zielen die realistisch erreichbar sind und bei Erreichen belohnt werden. Generierung neuer Herausforderungen und Aufgaben, die auch zu Hause durchgeführt werden können.
– Neue Trainingsformen auszuprobieren, die gemäss den aktuell geltenden Beschränkungen umgesetzt werden können: Alternative Trainingsformen bedeuten neue Erfahrungen, daraus können Erkenntnisse für die Post-Pandemie-Zeit gewonnen werden.
– Einschränkung der Informationen aus unsicheren Medien, zum Beispiel reisserische und vom fachlichen Inhalt meist zweifelhafte Artikel in der Presse.
– Regelmässiger Kontakt mit den Peers, zum Beispiel durch regelmässige Telefon-/Videomeetings mit den Mannschaftskollegen, sowohl ausserhalb als auch während der häuslichen Trainingseinheiten.
Übernahme von Verantwortung für die eigene psychische Gesundheit beinhaltet konkret
– Auf ausreichenden Schlaf, regelmässige Erholungs- und Entspannungszeiten achten. Einüben entsprechender Methoden wie zum Beispiel autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation.
– Über die eigene Befindlichkeit in Krisensituationen offen sprechen und dies nicht als Schwäche empfinden. Veränderungen der psychischen Verfassung bei sich aufmerksam beobachten.
– In Absprache mit dem Trainer, der aktuellen Situation angepasste Ziele setzen und weiterhin trainieren. Das Verfolgen eines Ziels kann ein stabilisierender Faktor für die psychische Gesundheit sein.
– Die Möglichkeit nutzen, neben der Wettkampfpersönlichkeit durch Üben der sozialen Kompetenzen oder kreativen Fähigkeiten die Gesamtpersönlichkeit anders zu erfahren und zu entwickeln
– hier sind wiederum Trainer und Betreuer gefragt, die entsprechenden Reize zu setzen.