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Individualisiertes Training – ein biopsychosozialer Ansatz

Editorial der Ausgabe #6/2018 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM). Die beiden Autoren Prof. Dr. Barbara Munz und Prof. Dr. Ansgar Thiel beschäftigen sich mit Fragen zur Individualisierung des Trainings im Spitzen- und Gesundheitssport.

Individualisiertes Training – ein biopsychosozialer Ansatz
© istock/blyjak

In den letzten Jahren hat die Frage nach der Individualisierung von Training sowohl im Spitzen- als auch im Gesundheitssport kontinuierlich an Bedeutung gewonnen.. Dabei wurden – auch von Seiten der Praxis – verstärkt interdisziplinäre Forschungsstrategien eingefordert, um die komplexen Mechanismen der Trainingsanpassung besser zu verstehen und damit die Grundlagen für ein individuell zugeschnittenes Training zu schaffen. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Menschen in unterschiedlichem Maße auf die gleichen Trainingsreize reagieren, fordern neuere theoretische Arbeiten, wie z. B. ein interdisziplinärer Ansatz von Bryan et al. (3), molekulare, trainingsphysiologische und sozialpsychologische Modelle in die sportwissenschaftliche Forschung zu integrieren: Da die akute physiologische Reaktion auf einen Trainingsreiz von genetischen Faktoren ebenso beeinflusst sei wie vom subjektiv-affektiven Erleben des Trainings und der Trainingsmotivation, ermögliche eine solche Verschränkung ein besseres Verständnis derjenigen Eigenschaften von Individuen, die in Bezug auf die Auf- und Annahme sowie auch die Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität wichtig sind.

Genetik, Epigenetik und Trainingsanpassung

Solche „holistischen“ Perspektiven sind in der Trainingsforschung allerdings noch die Ausnahme. Untersuchungen zu den Mechanismen der Trainingsanpassung haben sich in jüngerer Zeit verstärkt auf die molekulare Ebene fokussiert. Heute ist bekannt, dass die genetische Ausstattung zentral verantwortlich dafür ist, ob ein untrainiertes Individuum besser oder schlechter bei einer bestimmten sportlichen Aufgabe abschneiden wird. Gleichzeitig weiß man, dass die genetische Ausstattung einen Einfluss darauf hat, wie das Individuum auf bestimmte Trainingsreize reagiert, genauer gesagt, wie gut sich der Organismus an ein bestimmtes körperliches Training anpassen kann, also wie „trainierbar“ er ist (6). Auch hinsichtlich der physiologischen Anpassung des Körpers an Trainingsreize hat die molekularbiologische Forschung eine Reihe an Erkenntnissen erbracht, nicht zuletzt aufgrund der Entwicklung der „Omics“-Technologien, die eine umfangreiche und detaillierte Charakterisierung der trainingsassoziierten Transkriptome und Proteome ermöglichen.

So bedingen beispielsweise Ausdauer- und Krafttraining unterschiedliche spezifische Veränderungen von Genexpressionsmustern in der Skelettmuskulatur. Während bei der Anpassung an Krafttraining eher die Expression von Genen stimuliert wird, die einen glykolytischen Stoffwechsel und eine Muskelhypertrophie, verbunden mit einer gesteigerten Proteinsyntheserate, begünstigen, fördert Ausdauertraining die Expression von Genen, die mit aeroben Stoffwechselwegen assoziiert sind. Diese verschiedenen Anpassungsreaktionen werden über molekulare Signale gesteuert, die von der physischen Aktivität selbst ausgelöst werden und sich je nach Trainingstypus unterscheiden.

Neben mechanischen Signalen (wie z. B. Muskeldehnung, Mikroläsionen oder verändertem Blutfluss), systemischen Faktoren (wie z. B. Hormonen und Zytokinen) oder metabolischen Aspekten (wie z. B. sinkendem pH-Wert oder ATP-Verbrauch), spielen hier insbesondere die unterschiedlichen Aktivierungsmuster motorischer Nerven und – diesen nachgeschaltet – Calcium als sogenannter second messenger eine bedeutende Rolle: Während Krafttraining eher Calciumströme größerer Amplitude bei einer begrenzten Zahl von Repetitionen auslöst, sind für Ausdauertraining eher geringgradigere Calciumströme, jedoch eine hohe Anzahl von Repetitionen, typisch. Diese unterschiedlichen Calciumströme spielen eine entscheidende Rolle in Bezug auf die spezifische Anpassungsreaktion des Muskels an verschiedene Trainingsformen. So wird ermöglicht, dass Krafttraining z. B. die Proteinbiosynthese stimuliert, so dass mehr Muskelprotein synthetisiert werden kann, während Ausdauertraining z. B. dazu führt, dass die Mitochondriendichte steigt (4, 6).

Bild Barbara Munz
Prof. Dr. Barbara Munz, Leiterin Molekular- und Zellbiologisches Muskellabor, Universitätsklinikum Tübingen © Munz B
Bild Ansgar Thiel
Prof. Dr. Ansgar Thiel, Direktor des Instituts für Sportwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen © Thiel A
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