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Fortsetzung Individualisiertes Training – ein biopsychosozialer Ansatz

Trainingserfahrung und epigenetische Prägung

In jüngster Zeit mehren sich die Hinweise darauf, dass sich die individuelle Trainierbarkeit im Lebensverlauf durch äußere Faktoren, wie beispielsweise Ernährung oder Stress, verändern kann. Hier kommt das noch junge Fachgebiet der Epigenetik ins Spiel. Die Epigenetik befasst sich mit Prozessen, welche die Genexpressionsmuster spezifisch und längerfristig verändern, ohne die Basensequenz der DNA selbst zu beeinflussen. Die DNA-Sequenz ist weitgehend stabil und kann lediglich über nicht zielgerichtete Mutationen, welche im Verlauf vieler Generationen und über lange Zeiträume über natürliche Selektion „geprüft“ wurden, verändert werden.

Epigenetische Veränderungen können dagegen schnell und zielgerichtet erfolgen und ermöglichen dadurch eine effiziente Anpassung eines einzelnen Individuums – nicht nur einer Spezies – an sich ändernde Umweltbedingungen. So können Umweltreize wie körperliches Training oder Ernährung epigenetische Veränderungen hervorrufen, die dann nachfolgend beeinflussen, wie das Individuum auf weitere Reize, wie z. B. eine erneute Trainingseinheit, reagiert. Mechanistisch werden epigenetische Veränderungen durch ähnliche Signale gesteuert, die auch die direkte transkriptionelle Antwort auf einen Trainingsreiz kontrollieren, also z. B. durch differentielle Calciumströme.
Die wichtigsten epigenetischen Veränderungen sind die DNA-Methylierung (vor allem die Modifikation von Cytosin zu 5-Methylcytosin primär im Bereich von Promotorregionen), die Methylierung und Azetylierung von Histonen sowie die (von manchen Autoren nicht im engeren Sinne als „epigenetisch“ angesehene) Regulation der Genexpression durch sogenannte microRNAs (miRNAs) (2).

Ein prominentes Beispiel für einen epigenetischen Regulationsmechanismus in Zusammenhang mit körperlichem Training ist die Induktion des PGC-1alpha-Gens im Skelettmuskel nach einer aeroben Belastung, welche durch Demethylierung des entsprechenden Promotorbereichs gesteuert wird. PGC-1alpha (Peroxisome proliferator-activated receptor-gamma coactivator-1alpha) spielt eine entscheidende Rolle bei der mitochondrialen Biogenese und Angiogenese (4) und ist damit ein wichtiger Faktor bei der metabolischen Anpassung an Ausdauertraining (11, 14). Diese Hypomethylierung ist bereits nach einer einzelnen Trainingseinheit zu beobachten und wird auch, aber nicht ausschließlich, durch differentiellen Calciumeinstrom gesteuert. Für die Methylierung und Azetylierung von Histonen sowie die Entfernung der entsprechenden Markierungen existiert eine Vielzahl von Enzymen mit unterschiedlicher Spezifität. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Histon-Deazetylasen (HDAcs) der Klasse IIa, von denen schon seit längerem bekannt ist, dass sie in die Regulation des myocyte enhancer factor 2 (MEF2) involviert sind. MEF2 ist ein Transkriptionsfaktor, der für die aerobe Anpassung der Muskelfaser wichtig ist (2, 6).

Epigenetische Charakteristika könnten aber nicht nur als spezifische Trainingsmarker, sondern auch als Prädiktoren für den Grad der Trainingsanpassung fungieren. So ist es denkbar, dass „Non-Responder“ in Bezug auf eine bestimmte Trainingsform oder –intensität, wie z. B. MICE (Moderate Intensity Continuous Exercise) oder HIIT (High Intensity Interval Training), im Skelettmuskel oder auch in anderen Geweben, wie dem kardiovaskulären oder dem respiratorischen System, charakteristische epigenetische Muster aufweisen. Darüber hinaus wird angenommen, dass bewegungsinduzierte epigenetische Modifikationen lebenslange positive Wirkungen haben können.

Eine sehr interessante Vermutung lässt sich in diesem Zusammenhang aus einem Review von Alegria-Torres et al. (1) ableiten. Die Autoren berichten u.a., dass ältere Menschen, deren periphere Blutlymphozyten in bestimmten Bereichen der DNA einen hohen Methylierungsgrad zeigen, eine geringere Inzidenz von Mortalität aufgrund ischämischer Herzkrankheit und Schlaganfall aufweisen. Ein höherer Methylierungsgrad dieser Regionen ist – so die Autoren – auch mit körperlicher Aktivität assoziiert. Zukünftig wäre es daher interessant zu analysieren, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen Methylierungsgrad der entsprechenden Regionen und Absenkung des kardiovaskulären Risikoprofils durch körperliche Aktivität gibt (1).

Relativ viele Indizien sprechen in jedem Fall dafür, dass frühere Trainingsepisoden eine Art „Epi-Memory“ (14) induzieren könnten, die in der Folge die molekulare Antwort einer Zelle, beispielsweise einer Muskelfaser, auf einen späteren Trainingsstimulus beeinflussen, sogar wenn dieser Stimulus lange Zeit später erfolgt. Verschiedenen Studien zufolge lässt sich sogar vermuten, dass Trainingsreize bei Eltern zu epigenetischen Veränderungen in der Skelettmuskulatur führen, die wiederum bei deren Nachkommen „erinnert“ werden können (14).

Die „soziale Epigenetik“ als biopsychosoziale Forschungsperspektive

Die molekularbiologische Forschung zur Trainingsanpassung des Organismus hat somit, so lässt sich an dieser Stelle festhalten, in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Insbesondere mehren sich die Arbeiten, die explizit darauf hinweisen, dass die physiologische Reaktion auf körperliche Aktivität eben nicht alleine von zeitlich stabilen genetischen Voraussetzungen bestimmt wird, weshalb epigenetischen Mechanismen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss (2).

Die eingangs erwähnte, von Forschern wie Bryan et al. (3) geforderte Verzahnung von biologischen, psychologischen und soziologischen Perspektiven, welche zu einem besseren Verständnis nicht nur der Anpassung an, sondern auch der Aufnahme und Aufrechterhaltung von körperlicher Aktivität beitragen könnte, ist in der sportwissenschaftlichen Forschungspraxis bislang allerdings nur ansatzweise zu beobachten. Außerhalb der Sportwissenschaft wird dagegen eine Ergänzung der molekularbiologischen Forschung durch soziologische und psychologische Modelle mit Nachdruck gefordert. So wird befürchtet, dass die epigenetische Forschung, welche eigentlich ein weniger essentialistisches Verständnis von Natur (5) und damit einen substanziellen Fortschritt in der Nature-Nurture-Kontroverse versprochen hat, in einer neuen Form des (biologischen) Reduktionismus steckenbleiben könnte (10).

Insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Epigenetik und Soziologie verspricht hier interessante neue Erkenntnisse. In dieser Perspektive lassen sich epigenetische Entwicklungsmechanismen beispielsweise als Bindeglied zwischen frühen Umweltfaktoren und dem Gesundheitszustand in späteren Lebensjahren verstehen. Aus soziologischer Perspektive kann der Zusammenhang zwischen einer sozialen Benachteiligung im Kindesalter und der späteren Gesundheit beispielsweise so beschrieben werden, dass Kinder aus bildungsfernen und ökonomisch schlecht gestellten Familien in Lebensverhältnisse sozialisiert werden, die durch ungesunde Lebensweisen charakterisiert sind, was im späteren Lebensverlauf zu den negativen Folgewirkungen führt. Die Epigenetik nähert sich diesem Phänomen aus einer anderen Perspektive. So nimmt sie sich der Veränderung von Genexpression und Phänotyp an und untersucht diese als „semi-stable molecular states (e. g. life long and transmissible over a limited number of generations) that influence physiology in subtle ways during development, in physiological conditions and in the establishment of several diseases“ (9).

Gene haben also einen relativ stabilen, aber nicht deterministischen Einfluss, da die biologischen Systeme die Flexibilität besitzen, auf Umwelteinflüsse zu reagieren und in rudimentärer Weise zu „lernen“ (9). Eine frühe epigenetische Programmierung durch ungesunde Umweltverhältnisse würde sich dann möglicherweise über den Lebensverlauf hinweg in ihrer negativen Auswirkung auf die Gesundheit entfalten (9). Die transgenerationale Transmission von schlechter Gesundheit wäre aus dieser Perspektive eben nicht nur aus biologischer Perspektive zu erklären. Vielmehr wäre die Vererbung ungesunder Lebensweisen zu einem gewissen Teil eben auch das Produkt eines unbewussten Lernens ungesunder Lebensweisen, welche die Eltern bereits von ihren Eltern erlernt hatten und die sich in der Folge wiederum biologisch niederschlagen.

Einer der vielen Hinweise auf einen solchen Zusammenhang gibt die Ernährungsforschung. So wird vermutet, dass die Ernährung im frühen Leben auf molekularer Ebene metabolische Strukturen bedingt, welche sich auf die Ernährungsphysiologie im Erwachsenenalter auswirken (7). Wie die Ernährung im frühen Kindesalter erfolgt, hängt wiederum von Einstellungen der Eltern, sozioökonomischen Voraussetzungen, Erziehung, Infrastruktur usw. ab.

Daraus lässt sich schließen, dass soziale Struktur und soziale Regulation direkt und kausal mit der Genomstruktur und Genregulation verbunden sind (8). Für die sportwissenschaftliche Forschung ist dieser Befund nicht zuletzt deshalb besonders interessant, weil Gene, die epigenetisch von der Ernährung beeinflusst werden, offenbar auch in erheblichem Maße von körperlicher Bewegung und ihren metabolischen Korrelaten beeinflusst werden (13).

Aus neueren Arbeiten lässt sich sogar die Vermutung ableiten, dass die Vermittlung von Spaß an körperlicher Aktivität, beispielsweise durch ein motivierendes Sportprogramm oder bewegungsfreundliche Umwelten, langfristig gesehen ein wichtiger Faktor hinsichtlich der Vorbeugung von schweren Krankheiten im späteren Leben darstellen könnte. So wird vermutet, dass der mit körperlicher Aktivität verbundene Eustress als ein epigenetischer Modulator wirkt, der mittels epigenetischer Veränderungen das Risiko für Fettleibigkeit und chronisch-degenerative Erkrankungen reduziert (13).

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