Seite 2 / 4

Fortsetzung Cannabis – bei Sportlern beliebt: Rauschmittel, Medizin oder Doping?

Das Endocannabinoidsystem und seine Funktionen

Ihre Wirkungen im Körper erzielen Phytocannabinoide über das körpereigene Cannabinoidsystem, auch Endocannabinoidsystem genannt. Es besteht aus mindestens zwei Rezeptoren, den G-Protein-gekoppelten Cannabinoidrezeptoren 1 (CB1-R) und 2 (CB2-R), den körpereigenen Liganden Anandamid (AEA) und 2-Arachidonylglycerol (2-AG) sowie Enzymen, die für die Synthese und den Abbau der Moleküle zuständig sind (z. B. die Fettsäureamid-Hydrolase FAAH). Das Endocanna­binoidsystem steuert bzw. hemmt die Aktivität aller Neurotransmitter (Dopamin, GABA, Glutamat, Serotonin, Glycin u. a.) über eine Aktivierung der Cannabinoidrezeptoren. CB1-R finden sich im Nervensystem sowie vielen weiteren Organen und Geweben, CB2-R vorwiegend auf Zellen des Immunsystems und in einigen Gehirn­regionen.

Die breite Verteilung der Rezeptoren lässt eine Beteiligung an zahlreichen Funktionen vermuten, darunter das Angst- und Belohnungssystem, Lernfähigkeit und Gedächtnisbildung, die Steuerung von Stressreaktionen, Schlaf, Schmerz, Appetit, Motilität und Temperatur, Neuroprotektion und viele weitere. Wissenschaftler vermuten, dass manche Erkrankungen auf Störungen des Endocannabinoidsystems beruhen könnten. Beispielsweise hat man in bestimmten Krebszellen eine erhöhte Anzahl an Cannabinoidrezeptoren gefunden. Daher stammt die Hypothese, dass man Störungen des Endocannabinoidsystems, die durch ein Zuviel oder Zuwenig an Rezeptoren oder Endocannabinoiden (AEA, 2-AG) bedingt sind, durch die Zufuhr von Cannabinoiden aus der Cannabispflanze entgegengesteuern kann. Man vermutet das beispielsweise bei Migräne, Reizdarm und Fibromyalgie.

Medizinisches Marihuana
Marihuana: Harzhaltige, getrocknete Blütentrauben und blütennahe Blätter © Michael / fotolia

Medizinischer Nutzen

Wie bereits erwähnt, ist die Datenlage zur Wirkung von Cannabis bzw. Cannabinoiden auf viele Krankheiten, Symptome und Syndrome noch ungenügend. Für einige Anwendungsbereiche gibt es aber bereits ausreichend Evidenz, um einen Einsatz zu rechtfertigen. So können Multiple-Skle­rose-Patienten mit einer mittelschweren bis schweren Spastik von medizinischem Cannabis profitieren. Auch bei chemotherapiebedingter Übelkeit und Erbrechen ist medizinisches Cannabis (v. a. THC) wirksam: CBD zeigt in vitro antiinflammatorische, antikonvulsive, anxiolytische und antiemetische Wirkungen. Einige der Effekte konnten auch in Patientenstudien gezeigt werden, doch die diesbezügliche Beweislage ist noch dünn mit Ausnahme bestimmter Formen der Epilepsie (7). Eine Reihe von Untersuchungen stellte für THC und/oder CBD Antitumorwirkungen fest. Bei welchen Krebsarten Cannabinoide sinnvoll eingesetzt werden können, wird vielerorts untersucht.

Wenngleich die Zuschreibung »Wundermittel« stark übertrieben ist, beruht die Wirkung auf mehr als nur Placebo plus Rausch. Trotz noch geringer Evidenz berichten Patienten weltweit von günstigen Einflüssen auf ihre Beschwerden. Unbedingt unterscheiden muss man die Einnahme von Cannabis zu medizinischen Zwecken und zum Freizeitgebrauch. Während für letzteren wissentlich und willentlich eine Überdosierung herbeigeführt wird, um die psychotropen Effekte zu erleben, erfolgt die Dosierung von THC im medizinischen Kontext so niedrig, dass kein oder kaum ein Rausch entsteht. Die Dosierung wird so angepasst, dass keine Beeinträchtigungen im Alltag stattfinden, während eine Wirkung auf das zu behandelnde Symptom noch spürbar ist. CBD hat im Gegensatz zu THC keine psychotrope Wirkung – im Gegenteil: Es ist in der Lage, die Wirkung des THCs abzuschwächen.

Cannabis bei Sportlern

Cannabis ist bei Sportlern beliebt. Unter jugendlichen Athleten gaben zwar nur 2,7 Prozent an, Cannabis im letzten Jahr konsumiert zu haben (2), doch bei Erwachsenen ist Cannabis (30,3 Prozent) nach Alkohol (82,6 Prozent) die am häufigsten konsumierte Substanz (1) – und das, obwohl es auf der WADA-Dopingliste steht. Zum Vergleich: 2016 gaben in der Normalbevölkerung 6,9 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und 16,8 Prozent der 18- bis 25-Jährigen den Konsum an (3). Die WADA setzt eine Substanz auf die Liste, wenn mindestens eines von drei Kriterien erfüllt ist:
1. Potenzial zur Leistungssteigerung oder nachweisbare Leistungssteigerung
2. Gesundheitsgefährdung des Athleten
3. Verletzung des Sportsgeistes

Für Cannabis gibt es keine Evidenz für eine direkte Leistungssteigerung (11). Diese könnte aber sekundär gegeben sein. Eigentlich beeinflusst Cannabis viele Prozesse negativ, die für Hochleistung notwendig sind: Es führt zu Schwindel, Benommenheit, verlangsamt die Reaktionszeit, verschlechtert die Koordination und stört das Raum- und Zeitempfinden. Gleichzeitig entspannt es jedoch die Muskulatur, wirkt in niedriger Dosis angstlösend, verstärkt impulsives Verhalten, verringert das Schmerzempfinden, erhöht die Herzfrequenz sowie die Vaso- und Broncho­dilatation.

Diese Eigenschaften könnten – einzeln oder in Kombination – Athleten dabei helfen, etwa unter Druck besser zu agieren. Die Muskelrelaxation zusammen mit erhöhter Risikobereitschaft kann außerdem in Risikosportarten unterstützend wirken. Sportler berichten davon, dass ihre Gedanken leichter fließen und (kreative) Entscheidungsprozesse besser werden. Andere beschreiben, dass sie weniger Schmerz empfinden oder diesen besser aushalten und die Konzentration sich verbessert. Auch der mit dem Konsum einhergehende tiefere Schlaf und die Eindämmung unangenehmer Gefühle können bestimmten Sportlern helfen, mit Trainingsbelastungen, Druck, Misserfolgen oder Verletzungen umzugehen (5).

Verschiedene Untersuchungen haben eruiert, in welchen Sportarten oder bei welchen Sportlern Cannabis besonders verbreitet ist. Dabei gab es teilweise ähnliche Ergebnisse, z. B. eine höhere Prävalenz in Risikosportarten und bei Männern, aber auch widersprüchliche Aussagen, z. B. bei der Frage, ob Elite- oder Freizeitsportler mehr Cannabis konsumieren. In mehreren Untersuchungen gaben Athleten an, Cannabis aus sozialen Gründen oder zur Erholung zu konsumieren. Etwa 12,5 Prozent nehmen die Substanz aus Gründen, die mit dem Sport zu tun haben, 36 Prozent sportunabhängig. Diejenigen, die Cannabis zur Steigerung ihrer sportlichen Leistung konsumieren, sind häufig auf nationaler oder internationaler Ebene aktiv und betreiben verhältnismäßig häufig Skeleton, Bobfahren und Eishockey. Doch auch im Snowboard- und Skisport, beim Tennis, Segeln und Kajakfahren scheint Cannabis nicht unüblich zu sein.
Bei Frauen steigt die Prävalenz mit dem Leistungsniveau. International aktive Frauen konsumieren häufiger als darunterliegenden Klassen. Im Altersvergleich ist die Wahrscheinlichkeit bei älteren Elite­athleten höher als bei jüngeren (1).

Nächste Seite: Nicht leistungssteigernd, aber angstlösend | Körperliche Auswirkungen und Abhängigkeit | CBD als Schmerzmittel im Sport?