Sportwissenschaft
EDITORIAL

Die Medizin ignoriert Nikotingebrauch als Krankheit

Ignoring Consequently the Addictive Nature of Nicotine

Die Botschaft der Zigarettenwerbung, Rauchen sei eine Frage des Lebensstils, wurde in Deutschland durch Öffentlichkeit und Medizin verinnerlicht. Man weiß zwar irgendwie, welche großen gesundheitlichen Probleme mit dem Rauchen verknüpft sind und dass das individuelle und gesellschaftlichen Vorteile bringen könnte, sich um die Rauchentwöhnung zu kümmern. Besonders deutlich wird dies im §34 des Sozialgesetzbuches V, in dem Medikamente zur Rauchentwöhnung von der Erstattung durch die Krankenversicherung ausgeschlossen sind.

Rauchen führt über eine Kombination aus sozialem Lernen und zentraler Belohnung zu tiefgreifenden molekularen Effekten und zur Abhängigkeit, je nach Disposition schon nach wenigen Zigaretten und dauerhaft (3). Das lässt sich nicht nur über die Wirkung auf die Nikotin-Rezeptoren erklären, sondern nach der Gateway-Theorie führt das über den Transkriptionsfaktor cyclic AMP response-element-binding protein (CREB) zu Langzeiteffekten über eine CREB-mediierte Veränderung des Chromatin und damit molekulargenetischen Veränderungen. Nikotin initiiert und begünstigt weiteren Substanzmissbrauch (3).
Wenn man diese doppelte Natur des Nikotingebrauchs verkennt, bleibt nur die Willensentscheidung des Rauchers als Ursache. In der subjektiven Wahrnehmung wird Nikotin verharmlost und der Raucher als „schuldig“ betrachtet, alles ungünstige Faktoren für das Lösen aus der Abhängigkeit. Dabei sind nicht Schuldvorwürfe, sondern klare Rahmenbedingungen und Hilfsangebote wichtig (2). Die Bürger haben ihren Teil schon beigetragen, indem sie die gesetzlichen Rauchverbote, z. B. in Bayern, verschärft haben. Nur Medizin (und Gesetzgeber) hinken hinterher.
In der Provinz Ottawa, Kanada, konnte gezeigt werden, dass eine systematische Identifizierung und Behandlung von Rauchern signifikante Effekte auf den Outcome dieser Patienten während des Klinikaufenthalts hat und dass dies sinnvollerweise mit einem Nachsorgeprogramm verbunden wird (4). Bei der stationären Aufnahme eines Patienten erfährt dieser einen zwangsweisen Rauchstopp und entsprechende Symptome des Nikotinentzugs; die Klinik kann diese z. B. durch Behandlung mit Nikotinpflastern wirksam abmildern, wenn man die Raucheranamnese beachtet. Damit wurde der Anteil an agitierten Patienten mit Nikotinentzugssyndromen deutlich gesenkt, Patienten kooperierten besser bei der Behandlung, hatten weniger Komplikationen und die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus verkürzte sich (4). Die entsprechenden Kosten wurden durch die Vorteile bei Weitem ausgeglichen. Zusätzlich wurde dem Patienten bei der Entlassung grundsätzlich eine Teilnahme an einem Rauchentwöhnungsprogramm angeboten, das sehr gut angenommen wurde. Damit konnte Ottawa mit dem Projekt unter Leitung von Dr. Andrew Pipe ein wirkungsvolles Beispiel setzen. Die Behandlung des Rauchens als Krankheit bringt sowohl gesellschaftliche wie auch individuelle gesundheitliche Vorteile und senkt die Kosten im Gesundheitswesen.
Dazu gehört eine konsequente Ausrichtung einer Nichtraucher-Policy für alle Beteiligten, insbesondere der Mitarbeiter von Kliniken in Ottawa. Das Rauchen von Patienten und Mitarbeitern in der Öffentlichkeit, vor den Eingangstüren, auf Balkons und in unmittelbarer Nähe von Klinikgebäuden ist gesetzlich untersagt und dies wird beachtet. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu Deutschland. Hier sammeln sich an Kliniken noch immer vor den Eingangstüren und auf Klinikbalkons Ärzte, Pflegepersonen und Patienten zum Rauchen, ungeachtet von gesetzlichen Regelungen.
Es geht aber nicht darum, Raucher zu verfolgen, sondern durch strikte Einhaltung von Verboten, professionellem Umgang mit der Erkrankung und der Akzeptanz von Rauchen als Erkrankung, den Betroffenen Hilfe und Stütze zu geben. Dazu gehört auch das Angebot von Kursen, psychologischer Unterstützung und Medikamenten, um Patienten bei dem schweren Weg aus der Sucht zurück zu unterstützen (1).
Die Medizin ist aufgerufen, die wissenschaftliche Evidenz anzuerkennen und in den medizinischen Alltag umzusetzen, wirksame Programme in den Kliniken einzuführen und nicht nur auf den Gesetzgeber zu schielen.

LITERATUR

  1. BALMFORD J, LEIFERT JA, SCHULZ C, ELZE M, JAEHNE A. Implementation and effectiveness of a hospitalsmoking cessation service in Germany. Patient EducCouns. 2014; 94: 103-109.
    doi:10.1016/j.pec.2013.09.024
  2. GOHLKE H. Smoking cessation – an update. DtschZ Sportmed. 2017;68:281-286.
    doi:10.5960/dzsm.2017.307
  3. KANDEL ER, KANDEL DB. A Molecular Basis for Nicotineas a Gateway Drug. N Engl J Med. 2014; 371: 932-943.
    doi:10.1056/NEJMsa1405092
  4. REID RD, MULLEN K, SLOVINEC D’ANGELO ME, AITKEN DA,PAPADAKIS S, HALEY PM, MCLAUGHLIN CA, PIPE AL. Smoking cessation for hospitalized smokers: anevaluation of the ‘Ottawa Model’. Nicotine Tob Res.2010; 12: 11-18.
    doi:10.1093/ntr/ntp165
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jürgen M. Steinacker
Hauptschriftleiter
Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin
Universitätsklinikum Ulm
Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin
Leimgrubenweg 14, 89075 Ulm
juergen.steinacker@uniklinik-ulm.de