Fußball & Wissenschaft
EDITORIAL

Wissenschaft schießt keine Tore – oder doch?

Science Shoots No Goals – Doesn’t It?

Prof. Dr. Wilfried Kindermann, Prof. Dr. Martin-Peter BüchFußball und Wissenschaft, das war lange Zeit tabu. Inzwischen hat sich manches geändert. Im Deutschen Fußball-Bund (DFB) gibt es seit mehr als vier Jahren eine Arbeitsgruppe Wissenschaft, die den Forschungsbedarf ermittelt und Projekte dem DFB zur Förderung vorschlägt. Es mag Trainer geben, bei denen die bloße Erwähnung des Begriffs Wissenschaft ablehnende Reaktionen auslöst. Zweifellos wird auch zukünftig der Fußball in erster Linie von der Empirie und Intuition leben. Dennoch kann die Wissenschaft dem Fußball helfen, ohne ihn zu dominieren.
Der DFB veranstaltet am 24. und 25. Januar 2013 seinen zweiten Wissenschaftskongress. Das Programm wurde von der Arbeitsgruppe Wissenschaft zusammengestellt. In diesem Heft werden einige der Übersichtsreferate des Kongresses mit medizinischem und trainingswissenschaftlichem Inhalt publiziert. Darüber hinaus werden auf dem zweiten DFB-Wissenschaftskongress weitere Themenbereiche wie Rehabilitation, spezielle Gesundheitsaspekte, psychologische Leistungsvoraussetzungen und Nachwuchsförderung referiert. Ein besonderer Programmteil ist dem Frauenfußball gewidmet mit der Kernfrage, ob eine frauenspezifische Trainingslehre notwendig ist.
In diesem Heft befassen sich zwei Artikel mit der Verletzungsproblematik im Fußball. Auf der Basis von epidemiologischen Daten stellt Schmitt Verletzungen und Überlastungsbeschwerden in Abhängigkeit von der Körperregion dar. Risikofaktoren und Verletzungsmechanismen sowie mögliche präventive Maßnahmen werden diskutiert. Ein Problem bleibt die größere Häufigkeit von Spätschäden wie Arthrosen an Hüft-, Knie- und Sprunggelenken bei Fußballspielern im Vergleich zur Normalbevölkerung (7).
Ekstrand berichtet über Ergebnisse der prospektiven UEFA Champions League Studie mit 27 europäischen Spitzenclubs aus 10 verschiedenen Ländern, durchgeführt über 11 Saisons (2). Durchschnittlich traten zwei Verletzungen pro Spieler und Saison auf, von denen 16% als schwer eingestuft wurden, weil sie eine Spielpause von mehr als vier Wochen erforderten. Erstaunlich ist die Tatsache, dass trotz größerer Spielintensität die Verletzungshäufigkeit im Verlauf von 11 Jahren nicht zugenommen hat. Eine strengere Regelauslegung und härtere Strafen bei verletzungsträchtigen Aktionen wie Grätschen von hinten oder von der Seite oder auch Ellbogenschläge haben möglicherweise dazu beigetragen. Von besonderem Interesse ist der Befund, dass Spitzenspieler, die viele Spiele während der Saison bestritten hatten, bei den folgenden Welt- und Europameisterschaften häufiger verletzt und weniger leistungsfähig als üblich waren.
Laut einer UEFA-Umfrage ist die häufigste von Trainern gestellte Frage, wie man Regeneration messen kann. Oder, wie hat ein Spieler englische Wochen überstanden? Wer braucht eine Pause, um den Akku neu aufzuladen? Die Diagnostik von Überlastungszuständen ist nach wie vor ein Problem, obwohl national und international zahlreiche Forschungsansätze existieren, die aber bisher ohne durchschlagenden Erfolg geblieben sind. Meyer et al. beschreiben den aktuellen Forschungsstand (3). Sie weisen darauf hin, dass weder einzelne Parameter noch breit angelegte Blutuntersuchungen aussagekräftig sind. Für die Diagnostik von Erholung und Regenerationsbedarf im Fußball sei ein integrativer Ansatz, der verschiedene Ebenen erfasst, notwendig.
Zahlreiche wissenschaftliche Studien der letzten Jahre befassen sich mit konditionellen Aspekten aus trainingsmethodischer Sicht. Konditionstraining ist nicht nur in der Vorbereitungsperiode, sondern auch während der Saison notwendig, weil sonst bis zum Ende von Hin- und Rückrunde ein Leistungsabfall droht. Was man wie tun kann, wird in der Praxis kontrovers diskutiert. Sperlich et al. vergleichen anhand der gegenwärtigen Studienlage Wirksamkeit und Adaptationsmechanismen von hoch intensivem Intervalltraining (HIIT) und Ausdauertraining nach der Dauermethode (8). HIIT wird immer mehr propagiert, obwohl nicht neu, denn es wurde bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert insbesondere in der Leichtathletik erfolgreich angewendet und trainingsphysiologisch aufgearbeitet (6). In diesem Zusammenhang sei festgestellt, dass der Fußball mittlerweile auch Anleihe in anderen Sportarten sucht, was früher fast verpönt war, obwohl nicht alles 1:1 übertragbar ist. HIIT wird sich durchsetzen, ohne den jahrzehntelang praktizierten langsamen Dauerlauf zu verdrängen. Die Laktat-Angst scheint auch im Fußball zu schwinden. Offen bleibt und ist damit zukünftigen Studien vorbehalten, wie nachhaltig HIIT ist und ob vermehrt Überlastungsbeschwerden auftreten.
Moderne Spielanalysesysteme machen die Fußballprofis gläsern (1, 5). Wenn man intelligent mit diesen Datenpaketen umgeht, sind solche Matchanalysen mehr als ein Spielzeug, denn neben dem physiologischen Anforderungsprofil liefern sie beispielsweise Hinweise, ob ein bestimmter Spieler auch konditionell in der Lage ist, die taktischen Anweisungen des Trainers im Spiel umzusetzen oder ob eine bestimmte Trainingsform wie HIIT die gewünschten Effekte im Spiel zeigt. Darüber hinaus ermöglichen derartige Spielanalysen, das Konditionstraining des Fußballspielers mehr denn je zu individualisieren. Man sollte aber aufpassen, dass man sich in den Datenpaketen nicht verfängt. Die nackten Zahlen können täuschen, die Statistiken reflektieren nicht immer das Spielergebnis.
Die Ernährung ist im Fußball eine permanente Leistungsreserve, ohne diesen Aspekt ideologisch überfrachten zu wollen. Missionarische Ernährungsratschläge sind wenig brauchbar. Dennoch, für Fußballspieler ist die sportgerechte Ernährung eine ständige Herausforderung, weil sie im Vergleich zu anderen Sportlern, insbesondere Ausdauersportlern, damit einen eher leichtfertigen Umgang pflegen. Nieß und Striegel (4) befassen sich schwerpunktmäßig mit der Ernährungsoptimierung in der Nachbelastungsphase. Glykogenresynthese und muskuläre Proteinsynthese können durch eine entsprechende Nährstoffzufuhr wirksam beeinflusst werden. Intelligent essen und trinken gehört zu der Herberger’schen Fußballweisheit „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“.
Wer dauerhaft erfolgreich sein will, kann auf wissenschaftliche Unterstützung nicht verzichten. Die Entscheidung darüber, was wie in die Praxis umgesetzt wird, liegt aber letztlich beim Trainer. Im umgekehrten Fall wird aber erwartet, dass der Trainer bei gesundheitlichen Problemen eines Spielers die Entscheidung des Arztes akzeptiert. Fußball und Wissenschaft werden kein Traumpaar werden, denn dazu ist das Spiel zu komplex und die Ansichten darüber, was dem Fußball nutzen könnte, zu verschieden. Wissenschaft tötet aber nicht den Fußball, wie es gelegentlich behauptet wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen technische Finessen und Spielintelligenz nicht ersetzen sondern ergänzen.

LITERATUR

  1. Dellal A, Chamari K, Wong Del P, Ahmaidi S, Keller D, Barros R, Bisciotti GN, Carling C Comparison of physical and technical performance in European soccer match-play: FA Premier League and La Liga. Eur J Sport Sci 11 (2011) 51-59.
  2. Ekstrand J Playing too many matches is negative for both performance and player availability - Results from the on-going UEFA injury study. Dtsch Z Sportmed 64 (2013) 5- 9.
  3. Meyer T, Kellmann M, Ferrauti A, Pfeiffer M, Faude O Die Messung von Erholtheit und Regenerationsbedarf im Fußball. Dtsch Z Sportmed 64 (2013) 29- 35.
  4. Niess A, Striegel H Ernährung nach dem Training und Spiel – eine Leistungsreserve im Fußball? Dtsch Z Sportmed 64 (2013) 36- 40.
  5. Rampinini E, Coutts AJ, Castagna C, Sassi R, Impellizzeri FM Variation in top level soccer match performance. Int J Sports Med 28 (2007) 1018- 1024.
  6. Reindell H, Roskamm H Ein Beitrag zu den physiologischen Grundlagen des Intervalltrainings unter besonderer Berücksichtigung des Kreislaufs. Schweiz Z Sportmed 7 (1959) 1- 8.
  7. Schmitt H Prävention und Therapie typischer Verletzungen und Überlastungsbeschwerden beim Fußball. Dtsch Z Sportmed 64 (2013) 18- 28.
  8. Sperlich B, Hoppe MW, Haegele M Ausdauertraining – Dauermethode versus intensive Intervallmethode im Fußball. Dtsch Z Sportmed 64 (2013) 10- 17.