Sportmedizin
EDITORIAL

Musik- und Tanzmedizin - künstlerisches Pendant der Sportmedizin

Performing Arts Medicine – Sports Medicine’s Artistic Pendant

Mit der Sportmedizin hat die Musik- und Tanzmedizin vieles gemeinsam.  Genauso  wie  im  Sport  erfordert  eine  herausragende musikalische und tänzerische Performance körperliche Hochleistung. Neben der Betreuung professioneller Musiker und Tänzer,  ambitionierter  Laien  und  Amateuren  ermöglichen  zudem musik- und tanzmedizinische Grundlagen therapeutische, präventive und rehabilitative Konzepte.
Musik und Tanz sind jedoch künstlerische Bewegungsformen. Neben den diversen Gemeinsamkeiten können zwischen den athletischen  und  den  künstlerischen  Bewegungsformen  in  Intention und Aussage nahezu kontrastierende Differenzen angetroffen werden.  Im  Gegensatz  zum  Sport  verfolgen  Musik  und  Tanz  ein  anderes Ziel. Ihre primäre Intention ist der künstlerische Ausdruck, der  durch  die  Vermittlung  vielschichtigster  Emotionen  erreicht wird, die vom Künstler selbst generiert und durch sein spezifisches Medium  transportiert  werden,  im  besten  Fall  verbunden  mit  Ästhetik, Qualität, Schönheit und ansteckend überzeugendem Optimismus. Dadurch wird eine Ebene angestrebt und erreicht, auf der ein absolutes „höher, schneller, weiter“ wieder relativ wird. Temporär können höhere, schnellere, weitere Bewegungen zur Charakterisierung eines Werkes betragen. Das Finale ist jedoch häufig ein gemeinsam  gestalteter  Abschluss.  Die  absolute  Zeit  bis  zum  Erreichen des finalen Schlussakkordes oder Schlussbildes wird dann von untergeordneter Relevanz. So kann eine Sinfonie im Gegensatz zum Fußballspiel zu aller Zufriedenheit durchaus ein paar Minuten schneller fertig gespielt werden.
Musik und Tanz motivieren dadurch zu Bewegung und Gestaltung, jedoch ohne Kriterien messbaren Wettbewerbs.Wie  ist  es  nun  möglich,  ohne  den  Antrieb  eines  messbaren „höher,  schneller,  weiter“  Bewegung  interessant  und  attraktiv  zu gestalten?
Von ganz entscheidender Bedeutung ist zunächst die Aufteilung  und  die  Gestaltung  von  Raum  und  Zeit,  die  im  Verlauf  von Komposition  oder  Choreographie  für  Zuhörer  und  Zuschauer verfolgbare  interessante  Linienführungen  ergeben.  Diese  Linien können im Tanz visueller oder in der Musik akustischer Natur sein. Bei der Gestaltung dieser Linien muss dann eine nachvollziehbare Spannung  erzeugt  werden,  die  Aufmerksamkeit  weckt  und  aufrechterhält.  Spezielle  Effekte  erzielen  gestalterische  Höhepunkte. Über  verschiedenartigste  Attribute  sind  eine  unendliche  Vielfalt  kontrastreicher  aber  auch  nuancierter  Linienführungen  und atmosphärischer  Stimmungen  möglich,  die  Sinne  von  Zuhörern und Zuschauern derart ablenken, dass alltägliche Themen temporär auf die Wartebank platziert werden.
Hinter  dieser  intendierten  Ästhetik  steckt  harte  Arbeit. Voraussetzung für eine derartige koordinierte Präzisionsarbeit und kreative  Gestaltungsfähigkeit  ist  eine  perfekt  entwickelte  musik- und  tanzspezifische  Bewegungstechnik,  die  eine  immer  wieder anders  gestaltete  Zusammensetzung  ermöglicht  und  ein  konzertantes Agieren und Reagieren erlaubt. Die Aufführungen der verschiedenen  Kompositionen und Choreographien verlangen zudem sehr spezifische Fertigkeiten.  Die  alleinige  Fähigkeit, gut  musizieren  und  tanzen  zu können,  reicht  nicht  aus,  ein komponiertes  oder  choreographiertes  Werk  derart  in Szene zu setzen, dass es als ein solches  erkannt  wird.  Musikund  Tanz  werden  dadurch  zu Höchstleistungen  des  integrierten  und  vom  Menschen vollständig  kontrollierten  Bewegungsapparates, in dem einzelne  anatomische  Bausteine und  Teilfunktionen  einer  Gesamtleistung  untergeordnet  und  zweckdienlich  auf  ein  künstlerisches Ziel ausgerichtet werden.
Infolgedessen  ergibt  sich  bei  Musik  und  Tanz  innerhalb  der fünf körperlichen Beanspruchungsformen Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit,  Flexibilität  und  Koordination  eine  schwerpunktmäßige Aufteilung,  bei  der  die  Koordination  die  funktionell  bedeutende Position einnimmt, immer wieder anders gestaltete Linien zu ermöglichen.  Schnelligkeiten  können  erzielt  werden,  die  sich  einer optischen  und  akustischen  Auflösbarkeit  entziehen.  Haltearbeit wird  prozentual  sehr  bedeutsam.  Musikinstrumente  müssen  zur Tonproduktion,  ergonomisch  optimiert,  körpernah  gehalten  werden, damit die Folge aufgewandter körperlicher Leistung dem Zuhörer  nicht  in  solider  Gestalt,  sondern  „nur“  in  Form  von  Schallenergie um die Ohren „fliegt“. Darüber hinaus ist die notwendige körperliche  Arbeit  oftmals  nicht  unbedingt  offensichtlich.  Wer denkt  schon  beim  Anblick  des  hochästhetischen  Gewölbes  eines Fußes im Spitzenschuh „sur les pointes“ an die vielen kleinen und äußerst flexiblen Gelenke, die mit einem Maximum an Willenskraft und Körperleistung dafür in endgradige Gelenkstellungen gebracht werden? Wer denkt weiterhin bei den charakteristischen spritzigen Staccati der Blasinstrumentalisten in Smetana’s Overtüre „Die verkaufte Braut“ an die Schnellkraftausdauer der Zungenmuskulatur?
Diese Fokussierung auf eine Linienführung zum Zweck künstlerischen Ausdrucks birgt immense Gefahren. Körperliche Grenzen können  missachtet  werden,  wenn  mit  täglich  hohem  zeitlichem Aufwand  und  in  unzähligen  Repetitionen  eine  makellose  Liniendarstellung  angestrebt  wird.  Grenzen  der  Physiognomie  und  der range  of  motion  (ROM)  können  dabei  negiert  werden,  aber  auch der Erholungsbedarf ermüdeter Muskulatur. Als Folge erwünschter linienstarker  Körper  machen  demzufolge  bei  Tänzern  Essstörungen  auf  sich  aufmerksam  (8).  Unter  Musikern  kursieren  für tremorfreie Linien Beta-Blocker in einem nicht nachvollziehbaren Ausmaß (7). So wundert es nicht, dass in der Musik- und Tanzmedizin in großem  Umfang  die  Folgen  von  Überbeanspruchungen  und  Überbelastungen  thematisch  bedeutsam  sind  und  im  orthopädischtraumatologischen,  neurologischen,  internistischen,  aber  auch psychopathologischen Bereich anzutreffen sind (1). Dabei können seltene  Krankheitsbilder  mit  sehr  spezifischen  Ausprägungen und  Zusammensetzungen  angetroffen  werden,  die  eine  subtile Diagnostik und spezielle Therapie erfordern. Diese sehr spezifischen Beschwerdekomplexe können wiederum auch bei Sportler gefunden werden. So wurde bereits vermutet, dass das Damoklesschwert der Musiker, die Fokale Dystonie, als cerebrale Maladaptation infolge unzähliger Repetitionen möglicherweise im Sport ein Korrelat findet und u.a. bei professionellen Golfern als YIPS gefürchtet ist (5, 6).
Es  ist  jedoch  nicht  nur  das  Management  der  spezifischen Krankheitsbilder, die Musik- und Tanzmedizin für den Sport und die Sportmedizin interessant machen. Viel mehr jedoch ist es das enorme Potential von Motivation zu Bewegung, das von Musik und Tanz ausgeht. Darüber hinaus stehen natürlich Inhalte, Methoden und Didaktik, mit der dieses Potential erreicht wird. Zu erwähnen sind zudem die erforderlichen Spieltechniken, Übe- und Trainingsstrategien für aalglatte und pfeilschnelle Linien.
Im Gegensatz zur Sportmedizin hat die Musik- und Tanzmedizin allerdings eine andere Geschichte. In den anglo-amerikanischen Ländern entwickelte sich in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts  von  der  Betreuung  professioneller  darstellender  Künstler  ausgehend  eine  „Medicine  of  the  Performing  Arts“.  Bei  Musikern  war  die  ICSOM  Studie  für  die  Entwicklung  einer  klinischen Musikmedizin  ausschlaggebend  (2),  die  sich  mittlerweile  auch  in Deutschland als Musikermedizin etabliert hat. Die Ausbildung professioneller Musiker ist jedoch sehr von Traditionen geprägt, was zur Folge hat, dass die Integration einer physiologischen, d.h. naturwissenschaftlichen Musikwissenschaft immer noch auf massive Widerstände stößt (3, 4).
Sportmedizin und Musik- und Tanzmedizin können sehr voneinander  profitieren.  Musiker  und  Tänzer  werden  von  Sportlern insbesondere  in  der  strukturierten,  zeiteffektiven  Vorbereitung von Aufführungen sehr viel lernen können. Umgekehrt können bei Sportlern  die  attraktiven  Linien  einer  künstlerischen  Aufteilung von  Raum  und  Zeit  nicht  nur  Bewegungsanreize  darstellen  sondern  auch  zu  Verbesserungen  von  Sporttechniken  führen.  Es  ist zu hoffen und zu wünschen, dass diese Transfers in Zukunft mehr genutzt werden.

LITERATUR

  1. BEJJANI FJ, KAYE GM, BENHAM M Musculoskeletal and Neuromuskular Conditions of Instrumental Musicians. Arch Phys Med Rehabil 77 (1996) 406- 413.
  2. FISHBEIN M, MIDDLESTADT SE, OTTATI V, STRAUS S, ELLIS A Medical Problems among ICSOM Musicians: Overview of a National Survey. Med Probl Perform Art 3 (1988) 1- 8.
  3. HAHNENGRESS ML Musikphysiologie auf dem Weg zur Leistungs- und Aufführungsphysiologie. Teil I: Arbeitsphysiologische Prinzipien. Musik Physiol Musik Med 9 (2002) 157- 169.
  4. HAHNENGRESS ML Musikphysiologie auf dem Weg zur Leistungs- und Aufführungsphysiologie. Teil II: Leistungsphysiologische Prinzipien. Musik Physiol Musik Med 10 (2003) 149- 161.
  5. HOLLMANN W, STRÜDER HK, TAGARAKIS CVM Übertraining – ein Resultat der Hirnplastizität. Dtsch Z Sportmed 54 (2003) 25- 26.
  6. MARSDEN CD The Focal Dystonias. Clin Neuropharmacol 9 (1986) 49- 60.
  7. NEFTEL KA, ADLER RH, KÄPPELI L, ROSSI M, DOLDER M, KÄSER HE, BRUGGESSER HH, VORKAUF H Stage Fright in Musicians: A Model Illustrating the Effect of Beta Blockers. Psychosom Med 44 (1982) 461- 469.
  8. WANKE EM Ess-Störungen. Infoblatt 6 TaMed 2007.