Sportmedizin
EDITORIAL

"Wenn der Muskel exzentrisch wird..." Energierückgewinnung des Muskels beim Bremsen

„When the Muscle Goes Eccentric … “ – Energy Recycling in the Braking Muscle

Bei einer konzentrischen Kontraktion verkürzt sich der Muskel und  leistet  mechanische  Arbeit  (sog.  positive  Arbeit)  unter Verbrauch von Adenosintriphosphat (ATP), das nach Anlagerung an  Myosin  gespalten  wird  (ATPasewirkung).  Exzentrisch  ist  eine Kontraktion, bei der der Muskel eine Dehnung durch äußere Kräfte abbremst  (negative  Arbeit).  Dies  erfolgt  einerseits  wie  bei  einem Gummifaden  durch  elastische  Rückstellkräfte  in  Sehnen,  Bindegewebe  und  den  Muskelfasern  selbst;  in  letzteren  ist  besonders das Rieseneiweißmolekül Titin wichtig. Bei physiologischen Muskellängen  ist  diese  „Gummielastizität“  aber  gering.  Deshalb  werden  zusätzlich  Aktin-Myosinbrücken  gebildet,  die  der  Dehnung entgegenwirken. Dies kostet zwar möglicherweise Energie wegen ATP-Verbrauchs, hat aber den Vorteil, dass sich die Kraft wie mit einem  Bremspedal  abstufen  lässt.  Außerdem  sind  die  Hälse  der Myosinköpfchen elastisch und tragen bei Verbindung mit Aktin zur Bremskraft bei. Die Summe aller Kräfte im Muskel kann bei exzentrischer Kontraktion deutlich höhere Werte als bei konzentrischer erreichen  und  bei  ungewohnten  Bewegungen  Muskelkater  durch Mikrorisse verursachen (3).
Bei negativer Arbeit (z.B. Bergablaufen) wird Bewegungsenergie aufgenommen; was der Muskel damit macht, ist bis heute nicht geklärt.  Ein  bremsendes  Auto  mit  normalem  Verbrennungsmotor  verschwendet  seine  Bewegungsenergie  als  abgestrahlte  Wärme. Eine Straßenbahn benutzt ihren Elektromotor dagegen beim Bremsen als Dynamo und speist Energie ins Netz zurück. Sollte die Natur nicht beim Muskel im Laufe von 500 Millionen Jahren Entwicklung längst eine ähnliche Lösung gefunden haben? Es gibt in der Tat drei Mechanismen, die eine Rolle für die Energierückgewinnung spielen dürften.
1.  Bei  raschem  Wechsel  zwischen  konzentrischen  und  exzentrischen  Kontraktionen  kann  gespeicherte  elastische  Verformungsenergie  aus  der  Bremsphase  die  Verkürzung  des  Muskels unterstützen. Wenn ein Läufer aus der Flugphase landet, wird das Bein zu einer gespannten Feder, die den folgenden Abstoss unterstützt. Die gesparte Energie ist so groß, dass ab einer Mindestgeschwindigkeit  die  Sauerstoffaufnahme  geringer  ist  als  beim  Gehen. Wir beginnen dann unwillkürlich zu laufen, weil das leichter ist: ein Problem, mit dem sich die Sportgeher herumschlagen, die beim Laufen disqualifiziert werden. Besonders vollkommen beim Sparen ist das Känguruh, das sich als Zweibeinhüpfer mit großer Geschwindigkeit und weniger Energieverbrauch als Vierbeinläufer bewegen kann (z.B. (5)).
2.  Bei  Bergabbewegung  ist  die  Sauerstoffaufnahme  sehr  viel niedriger  als  bergauf,  obwohl  doch  dauernd  ATP  zum  Bremsen verbraucht  werden  sollte  (1, 2).  Möglicherweise  zieht  die  Bewegung  des  Aktins  bei  der Muskeldehnung  das  Myosinköpfchen,  das  eigentlich  eine  Kippbewegung macht,  in  die  Gegenrichtung und verursacht dabei höhere  elastische  Kräfte. Dadurch  wären  weniger ATP-Bindungen nötig. Ein weiterer  Mechanismus wurde  kürzlich  von  Brunello  et  al.  (4)  mitgeteilt. Jedes  Myosinfilament  hat 2  Köpfchen,  die  bei  konzentrischer  Kontraktion aber  nie  gleichzeitig  an das  Aktin  binden.  Dagegen  lagern  sich  beide Köpfchen bei exzentrischer  Kontraktion an, aber nur für die erste Bindung wird ATP benötigt. Dies könnte eine Halbierung des ATPBedarfs bedeuten!
3.  Wenn  ein  isolierter  Muskel  sich  exzentrisch  kontrahiert, findet man nur einen Teil der aufgenommenen Bewegungsenergie als  Wärme  wieder.  Wohin  ist  der  Rest  verschwunden?  Die  Wissenschaftler, die diese Messungen bereits vor einigen Jahrzehnten machten,  spekulierten,  dass  die  Muskelmaschine  beim  Bremsen rückwärts läuft und ATP synthetisiert. Der Gedanke ist nicht aus der Luft gegriffen, denn etliche ATPasen wie z. B. aktiv transportierende Ionenkanäle können ATP auch synthetisieren, wenn entsprechende Konzentrationsunterschiede von H+(Mitochondrien) oder Ca++(sarkoplasmatisches Retikulum) vorliegen.
In  den  letzten  Jahren  wurde  diese  alte  Idee  wiederaufgegriffen. Kürzlich haben Loiselle et al. (7) alte und neuere Befunde in einem Übersichtsartikel zusammengefasst und sind allerdings der Meinung, dass es keinen Beweis für ATP-Bildung gibt. In einer der zitierten Arbeiten (6) stellten die Autoren aber fest, dass bis zu 56% der von isolierten Froschmuskelfasern bei exzentrischer Kontraktion  aufgenommenen  Energie  nicht  sofort  als  Wärme  abgegeben wurden.  Die  Speicherung  in  elastischen  Strukturen  konnte  nur etwa  ein  Drittel  davon  erklären.  Die  Autoren  meinen,  dass  der ATP-Verbrauch  für  die  eigentliche  Kontraktion  gegen  Null  geht, glauben aber nicht, dass ATP erzeugt wird, da kurz nach Ende der exzentrischen  Kontraktion  die  gespeicherte  Energie  doch  noch als Wärme frei wird. Ich halte das aber nicht für beweisend, da die Versuche  bei  etwa  1°  stattfanden,  also  bei  stark  verlangsamtem Stoffwechsel.  Wegen  der  Reaktionsgeschwindigkeits-Temperatur Regel  sinkt  die  Geschwindigkeit  chemischer  Vorgänge  je  -10°  auf etwa  ein  Drittel.  Davon  muss  die  ATP-Synthese  als  endotherme Reaktion besonders betroffen sein. Wenn Energie zunächst durch Verformung  in  den  Querbrücken  zwischengespeichert  wird,  aber dann keine ATP-Bildung stattfinden kann, muss sie schließlich als Wärme freiwerden. Außerdem könnte die Situation bei wechselnd konzentrisch-exzentrischen  Bewegungen,  wenn  ATP  ständig  in großen Mengen verbraucht wird, völlig anders sein als bei den hier untersuchten einzelnen exzentrischen Kontraktionen.
Ein  möglicher  Speicher  für  neugebildetes  ATP  bei  Bremsarbeit ist Creatinphosphat. Erstaunlicherweise findet man dazu nur eine Veröffentlichung mit Muskelbiopsien bei negativer Arbeit auf dem Fahrradergometer aus dem Jahr 1972 (2). Bei 4 min dauernder positiver  Arbeit  (230  Watt)  fielen  Creatinphosphat-  und  Glykogengehalt im Muskel deutlich ab, während die Laktatkonzentration anstieg.  Bei  negativer  Arbeit  blieben  alle  Werte  völlig  gleich.  Das schließt eine Verwendung von Bremsenergie für die ATP-Synthese aber nicht aus, denn der Muskel hat einen erheblichen Aufwand für die Ionenpumpen in der Zellmembran und im sarkoplasmatischen Retikulum. Vielleicht wurde am Myosin neugebildetes ATP hier sofort wieder verbraucht, statt aus der Oxidation von Kohlehydraten und Fetten gewonnen zu werden?
Man kann gespannt sein, was die Forschung in den nächsten Jahren  zu  diesem  Thema  noch  herausfindet.  Aufklärung  könnten vielleicht  Magnetresonanzmessungen  der  Phosphate  im  Muskel bei Bremsarbeit bringen. Ich würde mich jedenfalls wundern, wenn die Natur nicht längst Energiesparmechanismen benutzen würde, die die Ingenieure noch suchen.

LITERATUR

  1. Asmussen E Positive and negative muscular work. Acta Physiol Scand 28 (1952) 364 - 382.
  2. Bonde-Petersen F, Knuttgen HG and Henriksson J Muscle metabolism during exercise with concentric and eccentric contractions. J Appl Physiol 33 (1972) 792-795.
  3. Böning D Muskelkater. Dtsch Z Sportmed 51 (2000) 63-64.
  4. Brunello E, Reconditi M, Elangovan R, Linari M, Sun YB, Narayanan T, Panine P, Piazzesi G, Irving M and Lombardi V Skeletal muscle resists stretch by rapid binding of the second motor domain of myosin to actin. Proc Natl Acad Sci U S A 104 (2007) 20114-20119.
  5. Kram R and Dawson TJ Energetics and biomechanics of locomotion by red kangaroos (Macropus rufus). Comp Biochem Physiol B Biochem Mol Biol 120 (1998) 41-49.
  6. Linari M, Woledge RC and Curtin NA Energy storage during stretch of active single fibres from frog skeletal muscle. J Physiol 548 (2003) 461-474.
  7. Loiselle DS, Tran K, Crampin EJ and Curtin NA Why has reversal of the actin-myosin cross-bridge cycle not been observed experimentally? J Appl Physiol 108 (2010) 1465-1471.