Werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis genutzt? Eine Betrachtung am Beispiel des Krafttrainings
Is There a Transfer of Scientific Knowledge into Practical Applications? A Consideration on Strength Training as an Example
Naheliegenderweise würde man erwarten, dass das Wissen der Sportwissenschaft und Sportmedizin sowohl im Leistungssport als auch in der Rehabilitation und der Prävention schnell und systematisch genutzt wird. Danach wird dieses Wissen und die gewonnenen Erfahrungen – soweit geeignet – auch Eingang finden in die Behandlung von nicht sportspezifischen Anwendungsfeldern, also bei normalen Patienten. Als historisches Beispiel für diese Annahme könnte man das „extensive Intervalltraining“ zur Steigerung der aeroben Ausdauer heranziehen. Nach den sportlichen Erfolgen wurden die morphologisch-physiologischen Zusammenhänge erforscht und auf die Rehabilitation von Kardiopatienten übertragen.
Im Gegensatz zum Ausdauertraining gelangte das Krafttraining erst in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in den Forschungshorizont der deutschen Sportwissenschaft. Die Forschungsleistung war dann allerdings rasant. Ursache dafür war u.a. das außergewöhnliche hohe Wissen durch den stetigen Konkurrenzkampf zwischen den Ost- und Westmächten und die dafür investierten Forschungsmittel.
Deutsche Sportwissenschaftler sind weltweit gefragt, wenn es um die Trainerausbildung oder Fragen der Trainingssteuerung geht. IOC, IAAF um nur zwei Institutionen zu nennen, greifen auf das deutsche Know how zurück. Im Mittleren Osten wird mit deutscher Hilfe der Anschluss an das Weltniveau gesucht. Vor den Olympischen Spielen in Sydney und Beijing wurden im großen Stil leistungsdiagnostische Verfahren und Einrichtungen übernommen.
Im deutschen Spitzensport allerdings funktioniert das System nur eingeschränkt. Auf die Frage, woran das liegt, gibt es eine Reihe von Antworten. Eine eher triviale Feststellung ist die alte Volksweisheit, wonach der Prophet im eigenen Land nichts gilt. Doch das wäre im vorliegenden Fall zu kurz gegriffen. Eine andere Erfahrung zeigt, dass Athleten und Trainer zwar an Neuigkeiten interessiert sind, aber ein großes Beharrungsvermögen bis hin zur Beratungsresistenz zeigen, wenn es um die Einführung von „Neuem“ geht. Die häufigste Argumentation lautet: „Weshalb sollten wir etwas ändern, im Großen und Ganzen sind wir doch gut!“ Da sportliche Erfolge immer auch von Zufällen abhängen, fällt es leicht, die Ursachen für den ausbleibenden Erfolg nicht im eigenen Tun zu sehen. Der Reiz des Sports besteht ja gerade darin, dass Resultate nicht vorhersehbar sind. Dies gilt aber nicht für alle leistungsdeterminierenden Komponenten aus denen sich eine sportliche Höchstleistung zusammensetzt. Konditionelle Komponenten sind gut trainierbar, und dies trifft auch für die Kraft und die Schnelligkeit zu.
Auch für die Rehabilitation und Prävention gilt, dass eine systematische Entwicklung und Trainingssteuerung der Kraftkomponenten über einen Behandlungsblock problemlos möglich ist.
Die Erkenntnisse aus dem Spitzensport sind dabei direkt übertragbar. So ist seit über 20 Jahren bekannt, dass Spitzensportler – z.B. Sprinter – über gute Kraftwerte in ihrer „Antriebsmuskulatur“ (prime movers) verfügen, die stabilisierende Rumpfmuskulatur dagegen schwach ausgebildet ist. Aus biomechanischen Gründen kann eine optimale Impulsübertragung auf den Boden nur erfolgen, wenn der Rumpf „stabil“ ist – actio gleich reactio. Gleiches gilt, wenn eine Kraftübertragung von den unteren auf die oberen Extremitäten erfolgen soll. Die Kräftigung der Rumpfmuskulatur erfolgt mit anderen Trainingsmethoden als die der Arme und Beine, weil diese Muskeln über eine andere Muskelfaserzusammensetzung verfügen. Wir diagnostizieren allerdings mit schöner Regelmäßigkeit diesen Missstand seit Jahren. Interessant ist, dass vergleichbare Diagnoseergebnisse für Patienten mit Gang- und Gleichgewichtsstörungen und insbesondere für Patienten mit einer „Rückenproblematik“ vorliegen. Die Resultate der Behandlungsmethoden sind widersprüchlich, wenig vergleichbar und oft dilettantisch. Häufig werden Krafttrainingsmethoden angewendet, die aufgrund der relativ hohen und langen Reizeinwirkungsdauer zu einer bevorzugten Herausbildung zwar der schnellen nicht aber der ermüdungsresistenten Muskelfasern führen. Die Folgen sind fatal: die Leistungen werden besser, man glaubt sich auf dem richtigen Weg und beraubt sich damit der Möglichkeit, die genetisch vorhandenen Ressourcen richtig auszuschöpfen. Die wirbelsäulenstabilisierende Muskulatur ist vorwiegend tonisch und ausdauernd (vom Typ I). Ein Krafttrainingsreiz mit schnellkräftiger Ausrichtung und (oder) Maximalkraftorientierung führt nicht zu den gewünschten Resultaten.
Ein weiteres wichtiges Faktum ist die Umsetzung der erzielten Verbesserung in den Kraftkomponenten in die sportspezifische bzw. alltagsorientierte Anwendung (Activities of Daily Living). Traditionelle Verfahren, wie sie in der Physiotherapie die Regel sind, entsprechen – wie in der Medizin auch – nicht dem Stand der Wissenschaft.
Wir wissen seit über 10 Jahren, dass ein Krafttraining 10 bis 12 Tage vor dem Wettkampf abgesetzt werden sollte, wenn man eine optimale Ausnutzung der Anpassung ohne Negativeinflüsse haben möchte. Gleichwohl befindet sich die Mehrheit der deutschen Spitzensportler in ihrer „Höchstform“ bei der Heimreise vom Wettkampf, weil bis unmittelbar vor den Entscheidungen ein Krafttraining absolviert wird. Umgesetzt für den Patienten bedeutet das, dass mehr als 1 – 2 Trainingseinheiten pro Woche ineffizient sind und auch „längere“ Pausen zwischen den Behandlungen eher günstig sein können.
Ein verbessertes Kraftniveau garantiert nicht notwendigerweise eine verbesserte Leistungsfähigkeit. Dazu bedarf es eines geeigneten Anschlusstrainings der sensomotorischen Leistungsfähigkeit oder – anders ausgedrückt – eines „spezifischen Krafttrainings“.
Es geht also um den Transfer des „Zugewinns“ in die Anwendung. In Abhängigkeit von der Sportart bzw. des Krankheitsbildes sind spezifische Lösungen notwendig, die vom aktuellen Wissen erheblich profitieren können.
Ich erspare mir und dem Leser weitere Beispiele und wende mich der Frage nach den Ursachen zu. Warum wird das universitäre Wissen der Sportmedizin und Sportwissenschaft so spät und so spärlich genutzt?
Eher triviale Gründe sind schnell abzuhandeln: Bequemlichkeit, Angst vor Neuem, Risiko bestehende Erfolge zu gefährden, Einschränkung der Trainerautorität etc. Daneben existieren aber auch „institutionalisierte“ Gründe. Der DOSB unterliegt in seiner Organisationsform, wie übrigens die einzelnen Spitzensportfachverbände auch, dem Subsidiaritätsprinzip. Es gibt keine Weisungsbefugnis und letztlich auch keine „harte“ Durchsetzbarkeit von „Empfehlungen“.
Mediziner richten sich nach den klassifizierten und festgeschriebenen Behandlungen, die entsprechend honoriert werden. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden werden dagegen häufig nur peripher wahrgenommen und erzeugen zusätzliche Kosten.