KOMMENTAR
DOPING

Claudia Pechstein, ein Fall von Blutdoping?

Is Claudia Pechstein a Case of Blood Doping?

KOMMENTAR

Claudia Pechstein, ein Fall von Blutdoping?

Die  Eisschnellläuferin  Claudia  Pechstein  ist  mit  fünf  Olympiasiegen  und  vier  weiteren  olympischen  Medaillen  die  erfolgreichste deutsche Winterolympionikin. Die Sportlerin wurde insgesamt ca. 350-mal in- und außerhalb der Wettkämpfe auf Dopingsubstanzen getestet.  Alle  Proben  waren  negativ.  Im  Februar  2009  wurde  bei Frau Pechstein während der Weltmeisterschaft in Hamar eine abnormal hohe Retikulozytenkonzentration gemessen (3,5 bzw. 3,4% der  roten  Blutzellen).  Daraufhin  beschuldigte  die  „International Skating Union“ (ISU) die Athletin im „Statement of Complaint“ vom 5.3.2009,  eine  „verbotene  Methode“  in  Form  von  Blutdoping  gemäß M1 der „2009 Prohibited List“ der World Anti-Doping Agency (WADA) angewandt zu haben. Im anfänglich betrachteten 10-jährigen Zeitraum hatte Frau Pechstein im Mittel doppelt so viele Retikulozyten (ca. 2%) wie – statistisch – normale Menschen. Der von der  ISU  vorgegebene  Grenzwert  (2,4%)  wurde  14-mal  überschritten, u. z. verteilt auf Sommer-, Herbst- und Wintermonate. Nach mündlicher Verhandlung am 29.-30.6.2009 in Bern befand die Disziplinarkommission (DC) der ISU Frau Pechstein für schuldig und sperrte sie zwei Jahre. Das ISU-Vorgehen ermöglichte der seit dem 1.1.2009 wirksame WADA-Code, wonach Sanktionen nicht nur bei Substanznachweis  oder  nachgewiesener  Manipulation  verhängt werden  können,  sondern  auch  bei  Indizien,  die  den  Rückschluss auf eine unerlaubte Methode zur Leistungssteigerung zulassen.
Vermutlich  angesichts  vielfältiger  Mess-  und  Dokumentationsfehler beschränkte die ISU ihre Vorwürfe bei der Berufungsverhandlung vor dem „Court of Arbitration for Sport“ (CAS) am 22.-23.10.2009 in Lausanne auf den Zeitraum Oktober 2007 – Februar 2009. Die CAS-Richter bestätigten die Sperre, wobei sie sich in ihrem Urteil („Arbitral Award“) auf die in Hamar ermittelten Werte beschränkten  (2).  Die  ISU-  und  CAS-Funktionäre  schlossen  eine Blutanomalie aus. Als Dopingsubstanz spezifiziert das CAS-Urteil rekombinantes humanes Erythropoietin (rhEpo) als Erythropoiese stimulierendes Agens (ESA). Obgleich zahlreiche peptidische und nicht-peptische erythropoietische Wirkstoffe bekannt sind (5), waren die später von der Presse ins Gespräch gebrachten Androgene, Somatotropin, Somatomedin C, G-CSF u. Ä. im vorliegenden Fall weder plausibel noch Gegenstand der Verhandlungen.
Das CAS-Urteil gibt die schriftlichen und mündlichen Aussagen der beteiligten deutschen Wissenschaftler ( fünf Univ.-Professoren und der Leiter des Referenzinstituts für Bioanalytik) fehlerhaft wieder. Exemplarisch sei angeführt:

a) Niedrig dosiertes rhEpo führt nicht zu erhöhten Retikulozytenzahlen (1). Dennoch wird dies im CAS-Urteil (S. 53) als Erklärung für die negativen Proben angeführt.
b)  Das  CAS-Urteil  verschweigt  die  Schwächen  des  von  der  ISU verwendeten  Messgerätes  Advia  (S.  41).  Bei  der  Kalibrierung  in Hamar zeigte das Gerät statt der vorgegebenen 0,8% nur 0,4% an. Umgekehrt ermitteln Advia-Geräte bei höheren %Retikulozytenzahlen höhere Werte als andere Geräte. Dies gilt speziell für Frau Pechsteins  Blut  (Ergebnis  einer  Probe  vom  15.4.2009:  2,4  %  mit dem Advia in Kreischa und 1,3% mit dem vom IOC favorisierten Sysmex in Lausanne).
c) Die Prävalenz von Retikulozytosen aufgrund hereditärer Erythrozytenanomalien ist hoch.
d)  Die  Erythropoiese  wird  im  Wege  einer  negativen  Rückkopplung  reguliert.  Wenn  rhEpo-Doping  effektiv  durchgeführt  und dann aufgehört wird, fallen die Retikulozyten unter 0,5% (9). Frau Pechstein hatte nie Werte < 1,0%.
e)  Frau  Pechstein  hatte  während  der  vergangenen  10  Jahre  nie erhöhte Hämoglobinkonzentrationen [Hb]. Retikulozyten per se steigern  die  sportliche  Leistungsfähigkeit  nicht.  Im  CAS-Urteil werden  hilfsweise  Infusionsmanöver  diskutiert  (S.  53).  Im  gegebenen  Umfeld  (relativ  kleiner  Sportverband,  wechselnde  betreuende  Ärzte,  zahlreiche  unangemeldete  Kontrollen)  wäre  es jedoch kaum möglich gewesen, die Hb-Konzentration trotz ESAMissbrauchs 10 Jahre lang unentdeckt zu manipulieren.
f) Nach rhEpo-Behandlung sind typischerweise % Makrozyten, % hypochrome Zellen und das mittlere Volumen der Retikulozyten (MCVr)  vermehrt,  die  mittlere  Hb-Konzentration  (MCHCr)  und Hb-Masse  (MCHr)  der  Retikulozyten  dagegen  erniedrigt  (67). Frau  Pechsteins  rotes  Blutbild  in  Hamar  zeigte  ein  entgegengesetztes Muster (Tab. 1).

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) gab am 15.3.2010 in Berlin eine Pressekonferenz. Dort wurde erläutert, dass Frau Pechsteins Blutwerte nicht zu Doping passen, sondern wahrscheinlich durch eine hereditäre Membranopathie der Erythrozyten verursacht sind (4). Nach sorgfältiger Analyse wurde die Diagnose einer hereditären Sphärozytose (HS; Kugelzellanomalie, Typ VI nach Perrotta et al. (8)) gestellt. Bei HS ist die Lebenszeit der Erythrozyten verkürzt, so dass kompensatorisch mehr Retikulozyten heranreifen. Im Gegensatz zur Reaktion nach rhEpo-Gabe sind die kleinen Erythrozyten bei HS mit einer normalen Menge Hb beladen, und die mittlere Hb-Konzentration der Erythrozyten (MCHC) ist auffällig hoch. Dass Frau Pechstein die  klassischen  HS-Zeichen  (Retikulozytose,  hohes  MCHC  und einzelne Sphärozyten im Blut) zeigt, wurde schriftlich und mündlich während des DC- bzw. CAS-Verfahrens wiederholt festgestellt. Nach Literaturangaben haben ca. 1% aller gesunden Nordeuropäer Laborwerte, die zwischen den normalen und solchen bei Menschen mit  erhöhten  Retikulozytenzahlen  aufgrund  einer  Membranopathie der Erythrozyten liegen (3). Die leichten Formen der Anomalie bleiben meist unentdeckt, da die Betroffenen nicht krank sind. Nur in schweren Fällen kommt es zur Anämie.
Für den Autor, der seit Jahren im Anti-Dopingkampf engagiert ist, ist es frustrierend zu sehen, dass Sportler(innen) im Sinne einer  Beweislastumkehr  umfängliche  ärztliche  Untersuchungen  an sich durchführen lassen müssen, damit Blutparameter, die von der Norm  abweichen,  anders  als  durch  Doping  verständlich  werden. Zudem erscheint es ethisch fragwürdig, dass die medizinischen Befunde letztlich der breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden müssen. Im Fall Pechstein wurden auch die nahen Verwandten untersucht. Während der DGHO-Pressekonferenz wurde bekannt, dass auch Frau Pechsteins Vater Träger der HS-Anomalie ist.
Vermutlich  wird  Claudia  Pechstein  –  wenn  es  denn  dabei bleibt  –  die  einzige  Athletin  sein,  die  aufgrund  einer  isolierten Retikulozytenvermehrung  sportgerichtlich  verurteilt  wurde.  Mit Wirkung  vom  1.12.2009  hat  die  WADA  Richtlinien  für  den  indirekten  Blutdoping-Nachweis  vorgegeben.  Der  „Athlete  Biological Passport“ berücksichtigt zahlreiche Parameter (10). Dazu gehören u.a. der Hämatokrit, die Hb-Konzentration, die Erythrozyten- und Retikulozytenzahlen sowie die Größe der roten Blutzellen und ihr Hb-Gehalt. Verdachtsmomente ergeben sich, wenn sich diese Parameter plötzlich in einer Weise ändern, die für Blutdoping typisch sind, z.B. nach ESA-Missbrauch oder Bluttransfusionen. Auffällige Messdaten  werden  zunächst  anonym  bewertet,  um  Objektivität zu wahren. Blutabnahme, -lagerung und -analytik werden standardisiert.  Die  Analytik  soll  ausschließlich  im  WADA  akkreditierten Laboratorien  durchgeführt  werden.  Diese  müssen  sich  Qualitätskontrollen unterwerfen. Bei der Beurteilung der Messwerte sollen Trainingsmaßnahmen, Höhenaufenthalte und der allgemeine Gesundheitsstatus der Athlet(inn)en berücksichtigt werden.
Insofern ist die Sorge unberechtigt, ein Freispruch Frau Pechsteins hätte zukünftige Dopingnachweise auf Basis des Blutpasses erschwert.  Im  Gegenteil  –  nach  dem  Fall  Pechstein  ist  das  Verfahren erst recht mit einem Makel behaftet. Am 4.3.2010 hat Frau Pechstein beim Schweizer Bundesgericht die Wiederaufnahme ihres Verfahrens beantragt. Es ist zu hoffen, dass dieses dem Sport die  Chance  gibt,  im  Interesse  eines  effektiven  rechtsstaatlichen Anti-Dopingkampfes das Urteil zu revidieren. Tatsächlich wurden während  der  vergangenen  25  Jahre  jedoch  erst  zwei  CAS-Urteile aufgehoben.

Angaben  zu  fianziellen  Interessen  und  Beziehungen,  wie  Patente, Honorare  oder  Unterstützung  durch  Firmen:  Der  Autor  nahm  als Gutachter der DESG an den Verhandlungen in Bern und Lausanne teil. Er ist seit Jahren Gutachter für die WADA und das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp).

LITERATUR

  1. Ashenden M, Varlet-Marie E, Lasne F, Audran M The Effects OfMicrodose Recombinant Human Erythropoietin Regimens In Athletes.Haematologica 91 (2006) 1143-1144.
  2. CAS www.tas-cas.org/d2wfies/document/3802/5048/0/FINAL%20AWARD%20PECHSTEIN.pdf
  3. Conway Am, Vora Aj, Hinchliffe Rf The Clinical Relevance Of AnIsolated Increase In Th Number Of Circulating Hyperchromic RedBlood Cells. J Clin Pathol 55 (2002) 841-844.
  4. DGHO www.Dgho.De/Informationen/Presse/Pressemitteilungen/Blutveraenderungen-Bei-Claudia-Pechstein-Durch-Kugelzell-AnomalieVerursacht-Mit-Neuen-Messverfahren-Seltene-BlutanomalieDiagnostiziert.
  5. Jelkmann W Erythropoiesis Stimulating Agents And Techniques: AChallenge For Doping Analysts. Curr Med Chem 16 (2009) 1236-1247.
  6. Parisotto R, Gore Cj, Emslie Kr, Ashenden Mj, Brugnara C,Howe C, Martin Dt, Trout Gj, Hahn Ag A Novel Method UtilisingMarkers Of Altered Erythropoiesis For Th Detection Of RecombinantHuman Erythropoietin Abuse In Athletes. Haematologica 85 (2000)564-572.
  7. Parisotto R, Wu M, Ashenden Mj, Emslie Kr, Gore Cj, Howe C,Kazlauskas R, Sharpe K, Trout Gj, Xie M Detection Of Recombinant Human Erythropoietin Abuse In Athletes Utilizing Markers OfAltered Erythropoiesis. Haematologica 86 (2001) 128-137.
  8. Perrotta S, Gallagher Pg, Mohandas N Hereditary Spherocytosis.Lancet 372 (2008) 1411-1426.
  9. Russell G, Gore Cj, Ashenden Mj, Parisotto R, Hahn Ag EffctsOf Prolonged Low Doses Of Recombinant Human ErythropoietinDuring Submaximal And Maximal Exercise. Eur J Appl Physiol 86 (2002)442-449.
  10. WADA www.wada-ama-org/en/Resources/Q-and-A/Athlete-Passport.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Wolfgang Jelkmann
Institut für Physiologie
Universität zu Lübeck
E-Mail: jelkmann@physio.uni-luebeck.de