Sportmedizin
ÜBERSICHT
VERANLAGUNG DER LEISTUNGSFÄHIGKEIT

Genetik und Epigenetik der körperlichen Leistungsfähigkeit

Genetics and Epigenetics of Physical Performance

Abteilung für Sportmedizin, Prävention und Rehabilitation, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

ZUSAMMENFASSUNG

 Die Frage in wie weit körperliche Leistungsfähigkeit angeboren ist, oder durch Umwelteinflüsse erworben werden kann, ist für die sportmedizinische Praxis und Forschung von tragender Bedeutung. Dieser Beitrag liefert einen kurzen Überblick über die Fortschritte in der Untersuchung des Einflusses unserer Gene auf die phänotypischen Merkmale der Leistungsfähigkeit und gibt einen Ausblick auf ein Themengebiet, das Molekulargenetik und Sportmedizin in den nächsten Jahren gleichermaßen beschäftigen wird: die Epigenetik. Die Epigenetik ist eine vielschichtige Disziplin, die mehrere Mechanismen zur Modifizierung des Erbguts wie z.B. Basenmethylierung und Histonmodifikationen zusammenfasst. In ihr vereint sich der Faktor der Determination von Eigenschaften, mit Einschränkungen auch der der Vererbbarkeit, den wir aus der Genetik kennen, mit dem Faktor der Induzierbarkeit durch Umwelteinflüsse in vielfältiger Weise. Epigenetische Muster werden individuell während bestimmter Lebensabschnitte festgelegt und nur zu geringen Teilen vererbt. Die etablierten epigenetischen Merkmale regulieren Genaktivitäten bis hin zu einer vollständigen Abschaltung des betroffenen Gens. Hierdurch wird eine Zuordnung komplexer Phänotypen, wie der Leistungsfähigkeit zu bestimmten Genotypen erschwert. Ein Vergleich zu den Erkenntnissen der Abklärung anderer polygenetisch bedingter, phänotypischer Merkmale wie dem Typ 2 Diabetes kann helfen, Einblicke über Aufwand, methodisches Vorgehen und mögliche Praxisrelevanz weiterer Forschung zu gewinnen. Vor allem mit Blick auf epigenetische Regulationen von Genen ist das Ergebnis eines solchen Vergleichs ernüchternd und für den Praktiker stellt sich die Frage, ob der Versuch einer direkten Zuordnung des Genotyps zum Phänotyp zielführend sein kann.

Schlüsselwörter: Genetik, Epigenetik, Leistungsfähigkeit, quantitative Genetik

SUMMARY

The questions of the extent to which physical performance is determined by the human genome and to what extent it can be altered by environmental factors are of essential importance in sports medicine. This paper delivers an overview of recent progress in the investigation of genetic influences on the phenotypical traits of physical performance. Furthermore, a look is provided into the field of epigenetics, which will be of special interest to both molecular genetics and sports medicine in the future. Epigenetics is a complex discipline, comprising several mechanisms, such as DNA-methylation and histone modifications, which modify genes. Epigenetics combines determination of characteristics, to some extent even inheritance, which is known from classical genetics, with the factor of inducibility by environmental influences. Epigenetic patterns are determined individually during ontogenesis and are only partially inherited. Established epigenetic traits regulate gene activities in some cases up to complete silencing of the affected genes. This complicates the attribution of complex phenotypes like physical performance to certain genotypes. Integration of the knowledge derived from the investigation of other polygenic phenotypical traits like type 2 diabetes may provide insights into efforts, methodological procedures and possible practical relevance of further research. Especially regarding the epigenetic regulation of genes, the result of such an analogy is sobering and raises the question whether the attempt at direct attribution of the genotype to the phenotype can deliver relevant results at all. 

Key words: Genetics, epigenetics, performance, quantitative genetics

DER BLICK AUF DIE GENE ...

Für die sportmedizinische Praxis ist die Frage, wie stark die körperliche Leistungsfähigkeit des Sportlers von vererbten Faktoren abhängt und in wie weit sie durch äußere Umstände, insbesondere Training, beeinflussbar ist, von zentraler Bedeutung. Daher ist spätestens seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms der Blick vieler Sportmediziner auf die Molekulargenetik gerichtet, die in dieser Fragestellung die entscheidenden Hinweise liefern soll. Mit scheinbar zunehmender Befähigung, die genetischen Voraussetzungen des zu behandelnden Individuums zu definieren, könnten eine Einschätzung des Potentials der körperlichen Leistungsfähigkeit, eine Einflussnahme auf deren Entwicklung und eine Abschätzung erblich bedingter Krankheits- oder Verletzungsanfälligkeit immer zielgerichteter und effektiver möglich werden.
In der Realität jedoch lassen aktuelle Ergebnisse in Molekularbiologie und Genetik nicht auf eine baldige Anwendung molekulardiagnostisch personalisierter Sportmedizin hoffen, eine solche scheint eher in weite Ferne zu rücken. Der rapide wachsende Kenntnisstand in der molekularen Genetik wirft eine Vielzahl neuer, immer komplexerer Fragen auf. Diese erfordern oft eher Schritte zurück zur Basis als vorwärts ins Detail und die Beantwortung vor einer möglichen praxistauglichen Anwendung erscheint unausweichlich.
Dieser Artikel soll einen Überblick darüber geben, wie sich das Verständnis vom Einfluss genetischer und vor allem epigenetischer Faktoren auf phänotypische Merkmale, insbesondere von körperlicher Leistungsfähigkeit und Trainierbarkeit, in den letzten Jahren gewandelt hat und wie diese Faktoren die Zukunft der personifizierten Sportmedizin beeinflussen könnten. 

DIE VARIANZ DES PHÄNOTYPS UND DIE GENETIK

Noch vor wenigen Jahren war der allgemeine Konsens, dass die nicht veränderbaren begünstigenden oder limitierenden Einflüsse auf Training und Leistungszuwächse vollständig in der Basenabfolge der DNA begründet liegen, also im klassischen Genotyp festgelegt sind. Die individuelle phänotypische Varianz, und somit auch die Varianz der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Trainierbarkeit ließen sich demnach mit folgender Formel zusammenfassen:

VP = VG + VE

(VP: phänotypische Varianz, VG: genetische Varianz, VE: Varianz durch Umwelteinflüsse).
Bouchard et al. haben 1999 in ihrer Studie die Vererbung der Trainierbarkeit der Ausdauerleistungsfähigkeit, ausgedrückt durch die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max), auf maximal 47%abgeschätzt(2).DieslässtdieAuslegungzu,dassnachder oben genannten Formel, mindestens 53% der phänotypischen Varianz von äußeren Einflüssen, im speziellen Training und Lebensstil, abhängig sind. Andere Publikationen der HERITAGE-Studie kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Der vererbte Anteil der sportlichen Leistungsfähigkeit wurde immer mit Werten um die 50% eingeschätzt (3). Obwohl sich das Ausmaß der Vererbbarkeit in den unterschiedlichen Aspekten der körperlichen Leistungsfähigkeit, wie Ausdauer-, Schnellkraft- und Koordinationsleistungen, wahrscheinlich unterscheidet (11), ist doch die molekularbiologische Voraussetzung und Vorgehensweise identisch.
Als Folge dieser Erkenntnisse wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die die genetischen Hintergründe dieses beträchtlichen Anteils untersuchen sollten–die Assoziationsstudien. Assoziationsstudien sind in weiten Bereichen der medizinischen Forschung verbreitet um Epidemiologie und Genetik miteinander zu verbinden. Die Zielsetzung dieser Studien ist es, einzelne (Einzel-Gen-Assoziationsstudien) oder mehrere („erweiterte“ Assoziationsstudien) Gene, die verschiedene Ausprägungen aufweisen können (Polymorphismen), mit bestimmten phänotypischen Merkmalen in Zusammenhang zu bringen. In sportmedizinischen Assoziationsstudien werden Gruppen, die sich leistungsspezifisch in ihren Phänotypen unterscheiden, auf signifikante Verteilungsmuster spezieller Polymorphismen hin untersucht. Beispiele für Polymorphismen, welche potentiell die Leistungsfähigkeit beeinflussen, sind die homozygoten I-Polymorphismen des Angiotensin-konvertierenden Enzyms (ACE) (12). Weiterhin sind darunter die unterschiedlichen Varianten des Alpha-Aktinin 3 (ACTN3), der Deletionspolymorphismus (X) mit Ausdauer, der „reguläre“ (R) mit Schnellkraft (30), oder die Dra I Variante des alpha2a-Adrenorezeptor-Gens einzuordnen (29). In darauf aufbauenden Studien wurden Athleten auf mehrere dieser Polymorphismen hin untersucht. Die errechneten Genotyp score values (höchster value entspricht günstigster polygenetischer Konstellation) wurden mit der aktuellen sportlichen Leistung verglichen, um eine mögliche kombinierte Korrelation zu überprüfen (26).
Im Gegensatz zu diesen zahlreichen Studien, die die genetische Determination der körperlichen Leistungsfähigkeit entschlüsseln wollen, ist der Fachbereich der Epigenetik noch relatives Neuland im Bereich der molekularbiologisch orientierten Sportmedizin. Dieses Feld dürfte aber gerade für den Sport interessant sein und noch einige Überraschungen bereithalten, auch in Hinblick auf die Assoziationsstudien. 

DIE WELT DER EPIGENETIK - NEUORDNUNG DER ZUSTÄNDIGKEITEN

 In den letzten Jahren hat sich die Aufmerksamkeit der Molekulargenetiker zunehmend dem Fachbereich der Epigenetik zugewandt. Epigenetik wurde ursprünglich von Waddington als „the branch of biology which studies the causal interactions between genes and their products which bring the phenotype into being“ definiert. Ein Begriff also, der alle genetischen Abläufe beschreiben sollte, die nicht unmittelbar von der Basenabfolge bestimmt sind (28). Seitdem unterliegt die Definition der Epigenetik einem steten Wandel (7). Die der aktuellen Definition entsprechende Epigenetik beschäftigt sich mit den Modifikationen der DNA durch Methylierung von Basen in regulatorischen Sequenzen von Genen. Weiterhin beschäftigt sie sich mit der Veränderung von Histonen und mit Strukturprozessen im Chromatin, sowie der Verknüpfung dieser Mechanismen und ihren Auswirkungen auf den Phänotyp.
Histone sind DNA-bindende Proteine, mögliche Modifikationen treten in Form von Acetylierung, Phosphorylierung oder Methylierung auf. Diese Modifikationen stellen Mechanismen dar, die das Ablesen der DNA und folglich die Proteinsynthese und andere Prozesse steuern. So reguliert die Methylierung von DNA-Abschnitten in der Regel die Transkription einzelner Gene herunter oder verhindert sie vollständig, während die Acetylierung von Histonen und andere Chromatinmodifikationen DNA-Abschnitte freilegen, beziehungsweise verschließen, wie die Histon-Deacetylierung, die DNA in Nukleosomen genannte DNA-Histon-Komplexe einbindet. Kurz gesagt: epigenetische Prozesse bestimmen, ob bestimmte Gene abgelesen werden oder nicht. Die epigenetischen Muster sind in verschiedenen Geweben unterschiedlich ausgeprägt, werden innerhalb dieser Strukturen jedoch bei der Zellteilung weitergegeben. Die Steuermechanismen für diese Vorgänge sind vielfältig (25) und noch nicht bis ins letzte Detail verstanden. Des Weiteren sind diese Vorgänge teilweise reversibel und können zu verschiedenen Zeitpunkten in der Entwicklung auftreten (21).
So wird der Hauptteil des Erbguts direkt nach der Befruchtung (in der frühen Embryonalphase) demethyliert und in der Folgezeit neu methyliert (13). Es findet also eine Determination des genetischen Materials statt, in der Regel jedoch keine Vererbung oder Determination über die Generationen hinweg. Während der Demethylierungsphase bleiben jedoch einige Gene methyliert, die der sogenannten genomischen Prägung, auch genomisches Imprinting genannt, unterliegen (22). Es handelt sich hier nicht um eine direkte Vererbung von Merkmalen, sondern um eine geschlechtspezifische Ausblendung maternaler oder paternaler Allele, wobei letzteres häufiger vorkommt. Gene, die der genomischen Prägung unterliegen sind zumeist in bestimmten Regionen des Genoms organisiert, sogenannten „differentialley methylated regions“ (DMRs). Die genomische Prägung ist für die Entwicklung wichtig (15 Pembrey). Es ist möglich, dass dieser Prozess determinierende Auswirkungen auf den Phänotyp im Sinne von leistungsbeeinflussenden Faktoren hat.
Eine zweite genomweite Demethylierung findet in den Urkeimzellen des Embryos statt, bei Mäusen etwa am 13. bis 14. Tag der Embryonalentwicklung (21). In diesem Fall werden auch die Markierungen derjenigen Gene, die genomischem Imprinting unterliegen, gelöscht (22). Eine vollständige de novo-Methylierung findet in den Spermien wenige Tage später, in den Eizellen jedoch erst nach der Geburt, statt (21). Diese vollständige Neumethylierung unterstreicht noch einmal, dass es sich bei der genomischen Prägung nicht um eine Vererbung im ursprünglichen Sinn der Übereinstimmung von Generationen in einzelnen Merkmalen handelt, sondern um eine Prägung der Nachkommen durch die Elterngeneration auf epigenetischer Basis.
Ergebnisse aus Tierexperimenten zeigen aber, dass es Ausnahmen bei der genomweiten Demethylierung nach der Befruchtung gibt. Bei Mäusen wurden einzelne Gene entdeckt, deren Methylierungsmuster mit phänotypischen Folgen generationenübergreifend vererbt wird. Am besten erforscht ist das Agouti-Gen, dass in seiner unmethylierten Form zu einem gelben Fell, Übergewicht und einem erhöhten Diabetesrisiko führt, in methylierter Form jedoch nicht (14, 19, 24). Dieses Merkmal wird vom Muttertier auf den Nachwuchs vererbt, jedoch nur zu einem bestimmten Prozentsatz. Der restliche Nachwuchs entspricht phänotypisch dem Wildtyp. Die epigenetische Vererbung entspricht folglich nicht dem Mendelschen Vererbungsmuster.
Festzuhalten bleibt, dass die epigenetischen Merkmale, die durch Methylierung determiniert sind, wahrscheinlich nur in wenigen Genen vererbt werden. Der genomischen Prägung unterliegende Informationen werden nur von einer Generation auf die nächste weitergegeben, da in den Keimzellen der Tochtergeneration eine Neumethylierung stattfindet. Ansonsten findet während der Embryonalentwicklung eine komplett neue epigenetische Determination statt.  

AUSWIRKUNGEN DER EPIGENETIK AUF DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN GENOTYP UND PHÄNOTYP

In der Epigenetik vereint sich der Faktor der Determination, und teilweise auch der Vererbbarkeit von Eigenschaften, den wir aus der klassischen Genetik kennen, mit dem Faktor der Induzierbarkeit durch Umwelteinflüsse in vielfältiger Weise. Es gilt als gesichert, dass DNA-Methylierungen teilweise durch Umwelteinflüsse erworben werden. Dies geschieht vor allem in der Embryonal- und der frühkindlichen Entwicklung, aber auch weiterhin im ganzen Leben. Diese Determinierungen sind hinsichtlich ihrer Reversibilität schwer einzuordnen. Viele scheinen nach einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung nicht mehr beeinflussbar zu sein.
So lässt beispielsweise eine Studie darauf schließen, dass sich die epigenetischen Prägungsmuster von eineiigen Zwillingen mit der Zeit voneinander entfernen. Dieses Phänomen ist umso stärker ausgeprägt, je älter die Zwillinge werden und je mehr sich ihre Lebensstile voneinander unterscheiden (5).
Weiterhin haben Tiermodelle mit Ratten zur Untersuchung der genetischen und epigenetischen Einflüsse auf Fettleibigkeit gezeigt, dass einerseits die Ernährung der Muttertiere während der Schwangerschaft und Säugezeit einen lebenslangen Einfluss auf die Determination zur Fettleibigkeit des Nachwuchses haben kann (10, 17). Andererseits kann diese Determination durch eine hohe körperliche Aktivität der Jungtiere wiederum stark und nachhaltig vermindert werden (10).
Solche Erkenntnisse zeigen, dass die Epigenetik von den Mendelschen Gesetzen der Vererbung abweicht. Die Beeinflussbarkeit der Gene durch äußere Einflüsse ist eine Komponente, die an Lamarcks Theorien erinnert, ebenso die mögliche Erblichkeit dieser Modifikationen. Für die Zukunft ist es eine entscheidende Aufgabe, Entstehungen solcher vererbbaren epigenetischen Muster zu untersuchen.
In welcher Dimension leistungsrelevante Merkmale durch die Epigenetik gesteuert werden, ist bis dato kaum geklärt. Eine Möglichkeit, dass wenig verwendete Gene durch Methylierung ausgeschaltet werden (1), lässt aus sportmedizinischer Sicht durchaus Spekulationen zu. So würde zum Beispiel frühzeitige körperliche Inaktivität bei Kindern, epigenetische Hürden für spätere Aktivitäten aufbauen, wenn dadurch leistungsrelevante Gene unter epigenetischer Kontrolle herunterreguliert würden.
Wenn wir alle verschiedenen Faktoren der Epigenetik mit in die Gleichung zur Quantifizierung der phänotypischen Varianz einbeziehen, so muss diese stark erweitert in etwa lauten:

VP=(VG+VeGI+VveG)+VeG+VE

(VP: phänotypische Varianz, VG: genetische Varianz, VeGI: Einflüsse durch genomische Prägung (Imprinting), VveG: vererbte epigenetische Varianz, VeG: epigenetische Varianz, VE: Varianz durch Umwelteinflüsse).
Aufgeschlüsselt bedeutet dies also, dass sich die vererbte Varianz aus der genetischen Varianz, der durch parentale genomische Prägung gesteuerten Varianz und dem vererbten Anteil der epigenetischen Varianz zusammensetzt. Dieser Anteil der phänotypischen Varianz ist bei der Befruchtung bereits festgelegt. Dem gegenüber steht die erworbene Varianz, die sich aus der nicht vererbten epigenetisch determinierten Varianz und der durch Umwelteinflüsse direkt erworbenen Varianz zusammensetzt. Die vererbte Komponente wäre somit um die genomische Prägung sowie eine nicht bekannte Anzahl epigenetisch vererbter Methylierungsmuster erweitert. Sie bilden mit der genetischen Varianz zusammen die von Bouchard et al für die Trainierbarkeit der Ausdauer postulierten 47% (2). Zu diesem Anteil kommen noch sämtliche, nicht vererbte Aspekte der epigenetischen Varianz hinzu. Die Faktoren werden durch äußere Einflüsse gesteuert, jedoch vor allem während der Embryonalentwicklung und der frühen Kindheit ausgebildet. Sie sind ebenfalls determiniert und zu großen Teilen ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr durch einen veränderten Lebensstil oder Training steuerbar. Folglich sinkt der Anteil der steuerbaren Varianz der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Umwelteinflüsse erheblich.
Diese Formel kann durch ein Übersichtsschema veranschaulicht werden (Abb.1). Das Schema zeigt die Einwirkungen auf den Phänotyp durch verschiedene Faktoren mit Einbezug der verschiedenen epigenetischen Modifikationen und mögliche Interaktionen von Umwelt und Epigenetik. Es kann auf drei Ebenen differenziert werden: in determinierte Faktoren gegen Umwelteinflüsse, in vererbte und erworbene Determinationen und in genetische und epigenetische Vererbung sowie genomische Prägung.
Vergleicht man die erweiterte Sichtweise mit der althergebrachten, so zeigt sich sofort die Problematik anhand dieser, größtenteils in ihrem Umfang noch nicht quantifizierten, epigenetischen Faktoren, eine individuelle Prognose zu erstellen. Solange die Wirkungsweise der epigenetischen Determinationen, insbesondere der transgenerationalen, nicht umfassend geklärt ist, ist eine Quantifizierung epigenetischer Vererbungsmuster bei Säugetieren durch bestehende Methoden und Modelle für die Molekulargenetik nicht durchführbar. Solche Modelle sind bei Pflanzen bereits vorgestellt worden. Pflanzen weisen jedoch deutlich regelmäßigere epigenetische Vererbungsschemata auf (8). Für eine Erarbeitung eines epigenetischen Modelles für den Menschen ist es notwendig, auf Tierversuche zurückzugreifen. Dort kann mithilfe von Inzuchtstämmen und darauf aufbauend mit natürlichen Linien ein Überblick über die genomweiten epigenetischen Informationsmuster gewonnen werden. Basierend auf den Ergebnissen bieten sich Untersuchungen von Zwillingsstudien mit Kindern an. Sie sind in ihrem epigenetischen Zustand kaum unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt und so kann voraussichtlich, über mehrere Zeiträume gemessen, ein bestmöglicher Einblick in die Natur genomweiter epigenetischer Determination beim Menschen gewonnen werden.
Es ist zweifelhaft, ob eine Zuordnung komplexer Phänotypen wie der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Trainierbarkeit lediglich zu bestimmten Genotypen, ohne Berücksichtigung der epigenetischen Modifikationen, mehr auf- als verklärt wird. Für den Praktiker muss sich die Frage stellen, ob der Versuch einer solchen Zuordnung überhaupt zielführend sein kann. 

EIN VERGLEICH AUS DER DIABETESFORSCHUNG

Um das Ausmaß einer möglichen Vorgehensweise für weitere Forschungsaktivitäten einordnen zu können, hilft ein Vergleich zu den Erkenntnissen über die Abklärung eines anderen polygenetisch bedingten, phänotypischen Merkmals, dem Typ 2 Diabetes. Zum einen erhält man einen Einblick, welcher Aufwand und welches methodische Vorgehen in etwa sinnvoll ist, um erste Erkenntnisse zu gewinnen. Zum anderen lässt sich abschätzen, welche Praxisrelevanz diese Ergebnisse haben könnten.
So wurden 2003 und 2006 zwei Studien veröffentlicht, in denen aufeinander aufbauend der Transkriptionsfaktor TCF7L2 als bisher einflussreichster Marker für Typ 2 Diabetes, mit einer ungefähren Effektgröße von etwa 1,45, identifiziert wurde. Somit erhöht das Risikoallel die Wahrscheinlichkeit an Diabetes zu erkranken um etwa 45%. In der ersten Studie wurden 763 Typ 2 Diabetiker aus 227 Familien mit 906 Mikrosatellitenmarkern untersucht (23). Anhand der darauf basierenden Einschränkung des Areals für das Merkmal auf das Chromosom 5q wurde dieses in der zweiten Studie mit 228 Mikrosatellitenmarkern an 1774 Diabetikern und 2000 Gesunden aus 3 Nationen durchsucht (6).
Mehrere Universitäten und Einrichtungen konnten in einer gemeinsamen, 2008 veröffentlichten Studie sechs weitere Loci mit Typ 2 Diabetes assoziieren. Die Studie umfasste eine genomweite Metaanalyse von 10.128 Individuen europäischer Herkunft und über 2 Millionen SNPs sowie einer Reproduzierbarkeitsstudie an einer unabhängigen Stichprobe mit einer Stichprobengröße von 53.975 Probanden. Die annähernden Effektgrößen lagen zwischen etwa 1,09 und 1,15 (31).
Das entspricht jeweils umgerechnet einer 9 - 15 % höheren Wahrscheinlichkeit an Diabetes zu erkranken, als wenn das entsprechende Allel ausgeprägt ist. Das ist eine Größenordnung in der die Faktoren einzeln praktisch ohne prognostische Relevanz sind. Mit diesen neuen Ergebnissen scheint nur ein kleiner Anteil der genetischen Einflussfaktoren für Typ 2 Diabetes gefunden zu sein (4). In diesem Bereich ist eine unmittelbare, genetisch basierte Zuordnung zu phänotypischen Eigenschaften nicht durchführbar. Die, wie in diesem Beitrag geschildert, in ihrem Einfluss durchaus nicht unerhebliche epigenetische Komponente könnte einen versteckten und momentan noch nicht erfassten Anteil an dieser Schwierigkeit haben. In Studien wurde beispielsweise eine, über die paternale Linie vererbte, epigenetische Determination für Diabetes durch Überernährung während der Kindheit nachgewiesen (9, 18). 

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Der Forschungsstand der Genetik zur Abklärung der körperlichen Leistungsfähigkeit eines Individuums betrachtet mittlerweile über 200 postulierten „Fitnessgenen“, also Gene die je nach Allel positiv oder negativ für die sportliche Leistung sein könnten (16). Es wird offenbar, dass die polygenetische Vielfalt der körperlichen Leistungsfähigkeit, sich zumindest ähnlich komplex darstellt wie andere multifaktoriell beeinflusste Eigenschaften oder Krankheitsbilder, z.B. der Typ 2 Diabetes, viele möglicherweise sogar übersteigt.
In Kontrollstudien zu mehreren „Fitnessgenen“, die bereits als entscheidend für die Leistungsfähigkeit erklärt worden waren, wurde deren Tauglichkeit als mögliche Determinanten einer Leistungsdiagnose infrage gestellt, wenn nicht sogar widerlegt (15).
So wurde zum Beispiel eine Studie veröffentlicht, die den X-Polymorphismus im ACTN3 Genlokus nicht mit Ausdauerleistungsfähigkeit assoziieren konnte (27). Ebenfalls konnte der ID-Polymorphismus des ACE-Gens in einer Kontrollstudie nicht mit Ausdauerleistungsfähigkeit assoziiert werden (20). Solche Widersprüche könnten durch die zahlreichen epigenetischen Faktoren, die in ihrer Vererbbarkeit und Determination größtenteils noch nicht definiert und quantifiziert sind, zumindest mitverursacht sein. Folglich führt der Weg zu einem besseren Verständnis der Genotyp-Phänotyp-Beziehungen wohl unweigerlich über ein detaillierteres Verständnis der epigenetischen Determinationen.
Daher erscheint es zurzeit unmöglich, aufgrund einer genetischen Analyse eines Individuums, eine zielgerichtete Voraussage des Leistungspotentials vorzunehmen. Welchen Anteil genetische und vor allem epigenetische Faktoren im Sinne von unveränderlichen Einflussgrößen tatsächlich an der körperlichen Leistungsfähigkeit haben, wird erst durch umfangreiche Modelle zur Quantifizierung dieser Merkmale möglich werden. Mit Hilfe solcher Modelle und möglicherweise mittels eines neuen Konzepts der Assoziationsstudien, könnten Abschätzungen über Einfluss und Wechselwirkungen der einzelnen Faktoren (Abb. 1) auf den Phänotyp getroffen werden. Somit bleibt festzuhalten, dass es zumindest momentan, weiterhin weniger die Molekulargenetiker, als vielmehr die Belastungsphysiologen sein müssten, die die Abschätzungen über körperliche Leistungsfähigkeit und Leistungspotential eines Sportlers vornehmen.

Angaben zu finanziellen Interessen und Beziehungen, wie Patente, Honorare oder Unterstützung durch Firmen: Keine. 

LITERATUR

  1. Bird A DNA methylation patterns and epigenetic memory. Genes Dev 16 (2002) 6 - 21.
  2. Bouchard C, An P, Rice T, Skinner JS, Wilmore JH, Gagnon J, Perusse L, Leon AS, Rao DC Familial aggregation of V ̇ O2max response to exercise training: results from the HERITAGE Family Study. J Appl Physiol 87 (1999) 1003 - 1008.
  3. Bouchard C, Daw EW, Rice T, Pérusse L, Gagnon J, Province MA, Leon AS, Rao DC, Skinner JS, Wilmore JH Familial resemblance for VO2max in the sedentary state: the HERITAGE family study Med Sci Sports Exerc 30 (1998) 252 - 258.
  4. Florez JC Clinical review: the genetics of type 2 diabetes: a realistic appraisal in 2008. J Clin Endocrinol Metab 93 (2008) 4633 - 4642.
  5. Fraga MF, Ballestar E, Paz MF, Ropero S, Setien F, Ballestar ML, Heine-Suñer D, Cigudosa JC, Urioste M, Benitez J, Boix-Chornet M, Sanchez-Aguilera A, Ling C, Carlsson E, Poulsen P, Vaag A, Stephan Z, Spector TD, Wu YZ, Plass C, Esteller M Epigenetic differences arise during the lifetime of monozygotic twins. Proc Natl Acad. Sci USA 102 (2005) 10604 - 10609.
  6. Grant SF, Thorleifsson G, Reynisdottir I, Benediktsson R, Manolescu A, Sainz J, Helgason A, Stefansson H, Emilsson V, Helgadottir A, Styrkarsdottir U, Magnusson KP, Walters GB, Palsdottir E, Jonsdottir T, Gudmundsdottir T, Gylfason A, Saemundsdottir J, Wilensky RL, Reilly MP, Rader DJ, Bagger Y, Christiansen C, Gudnason V, Sigurdsson G, Thorsteinsdottir U, Gulcher JR, Kong A, Stefansson K Variant of transcription factor 7-like 2 (TCF7L2) gene confers risk of type 2 diabetes. Nat Genet 38 (2006) 320 - 323.
  7. Holliday R Epigenetics: a historical overview. Epigenetics. (2006) 76-80.
  8. Johannes F, Colot V, Jansen RC Epigenome dynamics: a quantitative genetics perspective. Nat Rev Genet 9 (2008) 883 - 890.
  9. Kaati G, Bygren LO, Edvinsson S Cardiovascular and diabetes mortality determined by nutrition during parents’ and grandparents’ slow growth period. Eur J Hum Genet 10 (2002) 682 - 688.
  10. Levin BE Epigenetic Influences on Food Intake and Physical Activity Level: Review of Animal Studies. Obesity 16 (2008) S51 - S54.
  11. Maes HH, Beunen GP, Vlietinck RF, Neale MC, Thomis M, Vanden Eynde B, Lysens R, Simons J, Derom C, Derom R Inheritance of physical fitness in 10-yr-old twins and their parents. Med Sci Sports Exerc 28 (1996) 1479 - 1491.
  12. Montgomery HE, Marshall R, Hemingway H, Myerson S, Clark- son P, Dollery C, Hayward M, Holliman DE, Jubb M, World M, Thomas EL, Brynes AE, Saeed N, Barnard M, Bell JD, Prasad K, Rayson M, Talmud PJ, Humphries SE Human gene for physical per- formance. Nature 393 (1998) 221 - 222.
  13. Morgan HD, Santos F, Green K, Dean W, Reik W Epigenetic reprogramming in mammals. Hum Mol Genet 14 (2005) R47 - R58.
  14. Morgan HD, Sutherland HGE, Martin DIK, Whitelaw E Epigenetic inheritance at the agouti locus in the mouse. Nat Genet 23 (1999) 314 - 318.
  15. Norman B, Esbjörnsson M, Rundqvist H, Osterlund T, von Walden F, Tesch PA Strength, power, fiber types, and mRNA expression in trained men and women with different ACTN3 R577X genotypes. J Appl Physiol 106 (2009) 959 - 965.
  16. Ostrander EA, Huson HJ, Ostrander GK Genetics of athletic performance. Annu Rev Genomics Hum Genet 10 (2009) 407 - 429.
  17. Ozanne SE, Hales CN Lifespan: catch-up growth and obesity in male mice. Nature 427 (2004) 411 - 412.
  18. Pembrey ME Time to take epigenetic inheritance seriously. Eur J Hum Genet 10 (2002) 669 - 671.
  19. Rakyan V, Whitelaw E Transgenerational epigenetic inheritance. Curr Biol 13 (2003) R6.
  20. Rankinen T, Wolfarth B, Simoneau JA, Maier-Lenz D, Rauramaa R, Rivera MA, Boulay MR, Chagnon YC, Pérusse L, Keul J, Bouchard C No association between the angiotensin-converting enzyme ID polymorphism and elite endurance athlete status. J Appl Physiol. 88 (2000) 1571 - 1575.
  21. Reik W, Dean W, Walter J Epigenetic Reprogramming in Mammalian Development. Science 293 (2001) 1089 - 1093.
  22. Reik W, Walter J Genomic Imprinting: Parental Influence on the Genome. Nat Rev Genet 2 (2001) 21 - 32.
  23. Reynisdottir I, Thorleifsson G, Benediktsson R, Sigurdsson G, Emilsson V, Einarsdottir AS, Hjorleifsdottir EE, Orlygsdottir GT, Bjornsdottir GT, Saemundsdottir J, Halldorsson S, Hrafnkelsdottir S, Sigurjonsdottir SB, Steinsdottir S, Martin M, Kochan JP, Rhees BK, Grant SF, Frigge ML, Kong A, Gudnason V, Stefansson K, Gulcher JR Localization of a Susceptibility Gene for Type 2 Diabetes to Chromosome 5q34 – q35.2. Am J Hum Genet 73 (2003) 323 - 335.
  24. Roemer I, Reik W, Dean W, Klose J Epigenetic Inheritance in the mouse. Curr Biol 7 (1997) 277 - 280.
  25. Rottach A, Leonhardt H, Spada F DNA methylation-mediated epigenetic control. J Cell Biochem. 108(1) (2009) 43 - 51.
  26. Ruiz JR, Gómez-Gallego F, Santiago C, González-Freire M, Verde Z, Foster C, Lucia A Is there an optimum endurance polygenic profile? J Physiol. 587(Pt 7) (2009) 1527 - 1534.
  27. Saunders CJ, September AV, Xenophontos SL, Cariolou MA, Anastassiades LC, Noakes TD, Collins M No association of the ACTN3 gene R577X polymorphism with endurance performance in Ironman Triathlons. Ann Hum Genet. 71 (2007) 777 - 781.
  28. Waddington CH The Epigenotype. Endeavour (1942) 18 - 20.
  29. Wolfarth B, Rivera MA, Oppert JM, Boulay MR, Dionne FT, Chagnon M, Gagnon J, Chagnon Y, Perusse L, Keul J, Bouchard C A polymorphism in the alpha2a-adrenoceptor gene and endurance athlete status. Med Sci Sports Exerc 32 (2000) 1709 - 1712.
  30. Yang N, MacArthur DG, Gulbin JP, Hahn AG, Beggs AH, Easteal S, North K ACTN3 genotype is associated with human elite athletic performance. Am J Hum Genet 73 (2003) 627 - 631.
  31. Zeggini E, Scott LJ, Saxena R, Voight BF, Marchini JL, Hu T, de Bakker PI, Abecasis GR, Almgren P, Andersen G, Ardlie K, Boström KB, Bergman RN, Bonnycastle LL, Borch-Johnsen K, Burtt NP, Chen H, Chines PS, Daly MJ, Deodhar P, Ding CJ, Doney AS, Duren WL, Elliott KS, Erdos MR, Frayling TM, Freathy RM, Gianniny L, Grallert H, Grarup N, Groves CJ, Guiducci C, Hansen T, Herder C, Hitman GA, Hughes TE, Isomaa B, Jackson AU, Jørgensen T, Kong A, Kubalanza K, Kuruvilla FG, Kuusisto J, Langenberg C, Lango H, Lauritzen T, Li Y, Lindgren CM, Lyssenko V, Marvelle AF, Meisinger C, Midthjell K, Mohlke KL, Morken MA, Morris AD, Narisu N, Nilsson P, Owen KR, Palmer CN, Payne F, Perry JR, Pettersen E, Platou C, Prokopenko I, Qi L, Qin L, Rayner NW, Rees M, Roix JJ, Sandbaek A, Shields B, Sjögren M, Steinthorsdottir V, Stringham HM, Swift AJ, Thorleifsson G, Thorsteinsdottir U, Timpson NJ, Tuomi T, Tuomilehto J, Walker M, Watanabe RM, Weedon MN, Willer CJ; Wellcome Trust Case Control Consortium, Illig T, Hveem K, Hu FB, Laakso M, Stefansson K, Pedersen O, Wareham NJ, Barroso I, Hattersley AT, Collins FS, Groop L, McCarthy MI, Boehnke M, Altshuler D Meta-analysis of genome-wide association data and large-scale replication identifies additional susceptibility loci for type 2 diabetes. Nat Genet 40 (2008) 638 - 645.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Dr. Perikles Simon
Sportmedizin, Prävention und Rehabilitation
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Albert-Schweitzer-Str. 22
55128 Mainz
E-Mail: sportmedizin@uni-mainz.de