Wirbelsäulenformkennziffern als Indikatoren für Beschwerden des unteren Rückens
Spine Shape Parameters as Indicators for Low Back Pain Disorders
ZUSAMMENFASSUNG
Mit dem Ziel, Zusammenhänge zwischen klinischen Beschwerden des unteren Rückens und der Wirbelsäulenform zu identifizieren, wurden im vorliegenden Beitrag beschwerdefreie Vergleichspersonen (n=192) und eine heterogen zusammengesetzte Gruppe von Rückenschmerzpatienten (n=213) verglichen.
Die Rückenschmerzpatienten wurden für differenzierte Analysen nach Geschlecht und Rückenschmerzsyndromen klassifiziert. Für Rückenschmerzpatienten konnte die Bedeutsamkeit der Beckentorsion und der Lotabweichung faktorenanalytisch verifiziert werden. Rumpfvorneigung und Lotabweichung waren hochsignifikant größer als in der Vergleichsgruppe (p<.001). Bei Iliosakralschmerzpatienten konnten Beckenstellungskennziffern als Indikatorvariablen identifiziert werden. Die Beckentorsion war tendenziell größer als bei Vergleichspersonen (Frauen:η²=0,06) und die Lordose ausgeprägter als bei LWS-Patienten (Frauen: η²=0,08; Männer: η²=0,12). Für LWS-Patienten war die Ausprägung des Kyphosewinkels faktorenanalytisch bedeutsamer als die des Lordosewinkels. Lordosewinkel waren tendenziell kleiner als in der Vergleichsgruppe (Männer: η²=0,07).
Die nur befriedigende Aufklärung der Gesamtvarianzen (Faktorenanalysen) und die lediglich mittelstarken Effekte der univariaten Vergleiche werden vornehmlich auf die Stichprobenheterogenität zurückgeführt.
Schlüsselwörter: Wirbelsäulenform, Indikatoren, Rückenschmerzen
SUMMARY
This study works on an approach to find associations between spine shape parameters and back pain syndromes. A cross sectional analysis revealed significant differences between a group of volunteers (n=192) and a sample of back pain patients (n=213) for trunk inclination and trunk imbalance (p<.001) and verified the enhanced role of trunk imbalance and pelvis torsion for back pain patients. For specific questions, patients were subdivided into sacroiliac and lumbar back pain syndromes. The enhanced role of pelvis position parameters could be identified in sacroiliac pain syndromes. Furthermore, sacroiliac patients had larger lumbar angles than lumbar pain patients (females: η²=0, 08; males: η²=0, 12). For lumbar pain syndromes, thoracic angles were more important than lumbar angles. Male patients showed smaller lumbar angles compared to the volunteers (η²=0,07). The moderate effect size in univariate comparisons and the moderate total variance explained in multivariate analysis was due to the heterogeneous sample composition.
Key Words: spine shape, indicators, low back pain
EINLEITUNG
Rückenschmerzen werden zu über 80% als unspezifisch qualifiziert, weil keine direkte Ursache ermittelt werden kann (14). In der Bewegungstherapie und Funktionsdiagnostik wird jedoch ein immanenter Zusammenhang zwischen Haltungskennziffern (Wirbelsäulenform, Beckenstellung) und klinischen Beschwerden, vermittelt durch Muskelfunktionskennwerte (Kraft, Beweglichkeit, muskuläre Balance) angenommen (2, 10, 20). Für Trainingsinterventionen in der Behandlung von Rückenbeschwerden, die an der Muskelfunktion ansetzen, konnten nicht nur eine wirksame Schmerzreduktion (6, 13), sondern auch begleitende Haltungsmodulationen in der thorakalen Aufrichtung (5), in der lumbalen Aufrichtung (17) oder in positiven Modulationen skoliotischer Wirbelsäulenformkennziffern belegt werden (16).
In der sportmedizinischen Nachwuchsathletenbetreuung werden gesundheitliche Risiken beschrieben, die explizit mit Auffälligkeiten des Achsenskeletts und der Statik der unteren Extremität vergesellschaftet sind (X- und O-Beinstellungen, Senk-, Spreiz- oder Knickfussstellungen, Hypo- und Hypermobilität, Hyperkyphosen, Flach- und Hohlrundrücken, Skoliosen und Haltungsschwächen) (9).
Manualmedizinische Befunde liefern weitere Hinweise für einen direkten Zusammenhang zwischen Rückenschmerzsyndromen und Form- und Stellungsvarianten des Achsenskeletts. Vermittelt durch asymmetrische Bandscheibenbeanspruchungen führen Hyperkyphosen zu keilförmigen Wirbelkörperumbildungen und langfristig zu chronischen Rückenschmerzen (22). Strukturelle Läsionen (Discopathien) bzw. ligamentäre und primär muskuläre Überlastungen bei Beschwerden des unteren Rückens gehen häufig mit Zwangshaltungen einher, die nachhaltig als Abflachung der Lendenlordose beobachtbar sein können. Lumbosakrale bzw. iliosakrale Beschwerden unterschiedlicher Genese sind häufig mit sakraler Nutation und Auffälligkeiten der Beckenstatik im Sinne einer Verwringung und Schiefstellung assoziiert (12, 21).
In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob Kennziffern der Wirbelsäulenform und Beckenstellung auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit klinischen Rückenschmerzsyndromen stehen. Vor dem Hintergrund einleitend skizzierter sportmedizinischer, orthopädischer und manualmedizinischer Beobachtungen werden folgende Erwartungen abgeleitet, die zunächst beschwerdeübergreifend sowie in einem weiteren Schritt beschwerdeklassifiziert und geschlechterdifferenziert überprüft werden:
Annahme 1: Es gibt Wirbelsäulenformkennziffern, die auf systematische Unterschiede zwischen Rückenschmerzpatienten und einer beschwerdefreien Vergleichsgruppe hinweisen.
Annahme 2: Es gibt Zusammenhänge zwischen Beschwerdebildern des unteren Rückens und der Ausprägung definierter Wirbelsäulenformkennziffern:
- Für isolierte lumbal begründete Beschwerden desunteren Rückens wird eine Abflachung des lumbosakralen Übergangs angenommen (2.A).
- Für isolierte iliosakral bzw. lumbosakral begründete Beschwerden des unteren Rückens werden in Relation zu lumbal begründeten Beschwerden größere Lordosewinkel vermutet (2.B).
- Für isolierte iliosakral bzw. lumbosakral begründeteBeschwerden des unteren Rückens werden auffällige Beckenstellungskennziffern erwartet (2.A).
METHODE
Probanden: Insgesamt wurden 405 Personen (♀: n=208, ♂: n=197) untersucht. Als Vergleichsgruppe (VG) wurden freiwillige, beschwerdefreie Probanden akquiriert (n=192; ♀: n=79, Alter 26,5 ±4,7 Jahre; ♂: n=113, Alter 27,6 ±4,4 Jahre), deren physiologische Wirbelsäulenformvariationsbreite weder durch Wachstum und Reifung (Alter > 19 Jahre) noch durch degenerative Veränderungen (Alter ≤ 40 Jahre) beeinflusst sein sollte und die anamnestisch langfristig keine relevanten Rückenprobleme aufwiesen.
Die untersuchten Patienten (n=213, Alter 49,3 ±14,7 Jahre) hatten sehr individuelle, chronisch rezidivierende Krankengeschichten, häufig multifokale Beschwerden und schon mehrere Therapieversuche. Ein Teil der Patienten wies isolierte Beschwerden des unteren Rückens auf, die aufgrund fachärztlicher Diagnosen und der aktuellen Schmerzcharakteristik subdifferenziert werden konnten:
- isolierte, lokal begrenzte Beschwerden des iliosakralen Übergangs mit oder ohne regionale Ausstrahlung (kurz: ISG) (n=38; ♀: n=23, Alter 52,7 ±11,3 Jahre; ♂: n=15, Alter 38,0 ±15,7 Jahre) mit den korrespondierenden ICD-10-Diagnosen: Beinlängendifferenz, Skoliose, Lumbago/ Ischialgie, muskuläre Insuffizienz, Osteochondrose, Beckenschiefstand.
- isolierte, abgrenzbare Lendenwirbelsäulenbeschwerden mit oder ohne Radikulärsymptomatik (kurz: LWS) (n=34; ♀: n=15, Alter 47,7 ±15,2 Jahre; ♂: n=19, Alter 47,3 ±15,1 Jahre) mit den korrespondierenden Diagnosen: Spondylolisthesis, Spondylolyse, Discus prolaps, Lumbago/ Ischialgie, muskuläre Insuffizienz, Osteochondrose.
- mehrfach lokalisierte und nicht genau abzugrenzende Beschwerden (kurz: Multi) (n=141; ♀: n=91, Alter 50,4 ±14,8 Jahre; ♂: n=50, Alter 50,6 ±14,3 Jahre) mit den oben genannten Diagnosen.Starke Schmerzen (CR10 Schmerz-Score ≥ 5) zum Zeitpunkt der Untersuchung führten zum Ausschluss der betroffenen Patienten.
Messverfahren:
Die Wirbelsäulenform und Beckenstellung wurden mit Hilfe des Formetric®-Systems (Diers, Schlangenbad) analysiert (Abb. 1), wobei die Rückenoberflächenform über ein Projektor-Kamera-System rekonstruiert wurde (Auflösung: 7.500 Pkt./ cm²; Rekonstruktionsfehler: < 0,2 mm) (8). Die Reliabilität und Merkmalsvariabilität wurden überprüft (1, 18). Die Kennziffern des Formetric®-Systems (Tab. 1) wurden der statistischen Analyse als abhängige Variablen zugeführt. Die Schmerzintensität wurde mit Hilfe des CR10-Schmerzscores nach Borg (4) quantifiziert und die Lokalisation graphisch dokumentiert (19).
Statistik:
Stichproben wurden non-parametrisch (Median, 75% Quartil / 25% Quartil) beschrieben. Für univariate Analysen der Patientengesamtstichprobe wurde der U-Test (Mann/Whitney) gerechnet. Es galten übliche Signifikanzgrenzen: signifikant bei p ≤ .05 [*] und hochsignifikant bei p ≤ .01 [**] bzw. höchstsignifikant bei p ≤ .001 [***]. Fragestellungen unter Einbeziehung der Kennziffern Beckentorsion, Beckenneigung und Lordosewinkel wurden geschlechterdifferenziert bearbeitet. Für univariate Analysen der Patiententeilstichproben wurde der punktbiseriale Korrelationskoeffizient (rpbis) und die korrespondierende Effektstärke (η²) errechnet. Zur Einordnung der Effektstärke (η²) wurde auf die Konvention nach Rasch et al. (15) zurückgegriffen: η² ≥ 0,01 schwach, η² ≥ 0,06 mittel und η² ≥ 0,14 stark. Multivariat wurden Faktorenanalysen (Hauptkomponentenmethode mit Kaisernormalisierung und Varimaxrotation) (SPSS 12.0) durchgeführt. Für Analysen mit reduziertem Stichprobenumfang wurde die Anzahl der Variablen reduziert (NVariablen = maximal 1/3 NPersonen). Faktorladungsstärke und Gesamtvarianzaufklärung wurden in Anlehnung an Bös et al. (3) interpretiert.
ERGEBNISSE
Faktorenanalytisch wurden für die Vergleichsgruppe vier voneinander unabhängige Faktoren zur Beschreibung der Wirbelsäulenform extrahiert, die die Gesamtvarianz zu 66,4% erklärten (Faktorladungskoeffizienten der Wirbelsäulenkennziffern: Tab. 2 links):
- Faktor I determiniert durch Beckenneigung (BNG) und Lordosewinkel (Lw-max, Lw-T12) benannt als ‚Rumpfaufrichtung lumbosakral’,
- Faktor II determiniert durch Kyphosewinkel (Kw-max, KwT12) benannt als ‚Rumpfaufrichtung thorakal’,
- Faktor III determiniert durch mittlere Wirbelrotation (Rotrms) und mittlere Wirbelkörperseitneigung (Seit-rms) benannt als ‚Skoliosekennziffern’,
- Faktor IV determiniert durch Rumpfneigung (RNG) und Beckenhochstand (BHS) benannt als ‚Rumpfaufrichtung sagittal mit Becken frontal’.
Für die Gesamtheit der Rückenpatienten wurde zusätzlich zu den vier benannten Faktoren ein weiter Faktor ermittelt, der die Bedeutsamkeit der Beckentorsion im Zusammenwirken mit der Lotabweichung (Ladung auf Faktor IV: BTS 0,79 x Lot 0,60) für Rückenpatienten (Tab. 2 rechts) heraus stellte (Annahme 1). Die Gesamtvarianz wurde hier zu 74,1% erklärt.
Für die Parameter Rumpfneigung und Lotabweichung wurden univariat hochsignifikante Unterschiede zwischen der Vergleichsgruppe (VG) und der Gesamtgruppe der Patienten (Patges) ermittelt (Annahme 1) (Abb. 2):
- Rumpfneigung [mm]: Patges Median: 19 (75%-Quartil: 32 /25%-Quartil: 8) vs. VG Median: 2 (75%-Quartil: 20 / 25%-Quartil: -2); Z=-5,66; p<.001.
- Lotabweichung [mm]: Patges Median: 10 (75%-Quartil: 16 /25%-Quartil: 6) vs. VG Median: 6 (75%-Quartil: 10 / 25%-Quartil: 3); Z=-5,53; p<.001.
Multivariat wurden für die Frauen der Vergleichsgruppe drei voneinander unabhängige Faktoren zur Beschreibung der Wirbelsäulenform extrahiert, die die Gesamtvarianz zu 69,4% erklärten (Faktorladungskoeffizienten der Wirbelsäulenkennziffern: Tab. 3):
- Faktor I determiniert durch Kyphosewinkel (Kw-max) undLordosewinkel (Lw-max) benannt als ‚Rumpfaufrichtung thorakolumbal’,
- Faktor II determiniert durch Beckenhochstand (BHS) undBeckentorsion (BTS) benannt als ‚Beckenstellung’,
- Faktor III determiniert durch Lotabweichung (Lot) benanntals ‚Rumpfaufrichtung frontal’.
Für weibliche LWS-Patienten wurden zwei voneinander unabhängige Faktoren ermittelt (erklärte Gesamtvarianz 67,2%):
- Faktor I determiniert durch Lotabweichung (Lot), Rumpfneigung (RNG), Beckenhochstand (BHS) benannt als ‚Rumpfaufrichtung frontal & sagittal und Beckenstellung frontal’,
- Faktor II determiniert durch Kyphosewinkel (Kw-max) benannt als ‚Rumpfaufrichtung thorakal’.
Gegenüber dem Vergleichsgruppenfaktorenmodell verlor der Lordosewinkel seine relevante Ladung für die ehemals thorakolumbale Rumpfaufrichtung (Faktor II) (Tab. 3 Mitte), die sagittale Aufrichtung bei LWS-Patientinnen wurde vornehmlich thorakal bestimmt (Annahme 2.A Frauen). Für weibliche ISG-Patienten wurden ebenfalls zwei voneinander unabhängige Faktoren ermittelt (erklärte Gesamtvarianz 60,1%):
- Faktor I determiniert durch Beckentorsion (BTS), Kyphosewinkel (Kw-max) und Lordosewinkel (Lw-max) benannt als ‚Beckenverwringung und Rumpfaufrichtung thorakolumbal’,
- Faktor II determiniert durch Beckenhochstand (BHS) undLotabweichung (Lot) benannt als ‚Becken- und Rumpfaufrichtung frontal’.
Gegenüber dem Vergleichsgruppenfaktorenmodell wirkte die Beckentorsion bei ISG-Patientinnen nicht mehr auf die ehemals unabhängige Beckenstellung, sondern auf die thorakolumbale Rumpfaufrichtung (Faktor I). Die Auslenkung des Rumpfes in der Frontalebene wurde bei ISG-Patientinnen durch die frontale Beckenstellung mitbestimmt (Faktor II) (Tab. 3 rechts) (Annahme 2.C Frauen).
Für die Männer der Vergleichsgruppe wurden multivariat drei voneinander unabhängige Faktoren zur Beschreibung der Wirbelsäulenform extrahiert, die die Gesamtvarianz zu 66,9% erklärten. Das Faktorenmodell entspricht dem der Frauenvergleichsgruppe (Faktorladungskoeffizienten der Wirbelsäulenkennziffern: Tab. 4):
- Faktor I determiniert durch Rumpfneigung (RNG) und Kyphosewinkel (Kw-max) benannt als ‚Rumpfaufrichtung thorakal / sagittal’,
- Faktor II determiniert durch Beckenhochstand (BHS) undBeckentorsion (BTS) benannt als ‚Beckenstellung’,
- Faktor III determiniert durch Lotabweichung (Lot) benanntals ‚Rumpfaufrichtung frontal’.
Für männliche LWS-Patienten wurden drei voneinander unabhängige Faktoren ermittelt (erklärte Gesamtvarianz 70,3%):
- Faktor I determiniert durch Rumpfneigung (RNG) und Lordosewinkel (Lw-max) benannt als ‚Rumpfaufrichtung lumbal / sagittal’,
- Faktor II determiniert durch Beckenhochstand (BHS) undBeckentorsion (BTS) benannt als ‚Beckenstellung’,
- Faktor III determiniert durch Kyphosewinkel (Kw-max) benannt als ‚Rumpfaufrichtung thorakal’.
Im Gegensatz zum Vergleichsgruppenfaktorenmodell determiniert der Kyphosewinkel bei LWS-Patienten einen eigenständigen Faktor (Faktor III). Der Lordosewinkel determiniert bei LWS-Patienten zusammen mit der Rumpfneigung die kombinierte sagittale Rumpfaufrichtung (Faktor I) (Tab. 4 Mitte) (Annahme 2.A Männer).
Für männliche ISG-Patienten wurden ebenfalls drei voneinander unabhängige Faktoren ermittelt (erklärte Gesamtvarianz 74,5%):
- Faktor I determiniert durch Rumpfneigung (RNG) und Beckenhochstand (BHS) benannt als ‚Rumpfaufrichtung sagittal mit Becken frontal’,
- Faktor II determiniert durch Lordosewinkel (Lw-max) undLotabweichung (Lot) benannt als ‚Rumpfaufrichtung lumbal / frontal’,
- Faktor III determiniert durch Beckentorsion (BTS) und Kyphosewinkel (Kw-max) benannt als ‚Beckenverwringung und Rumpfaufrichtung thorakal’.
In Relation zum Vergleichsgruppenfaktorenmodell wurde die Rumpfaufrichtung bei ISG-Patienten mehr durch den Beckenhochstand mitbestimmt als durch die Kyphose (Faktor I) und die Beckentorsion wirkte nicht mehr innerhalb des unabhängigen Faktors Beckenstellung, sondern im Verbund mit dem Kyphosewinkel (Faktor III) (Annahme 2.C Männer).
Im Vergleich mit den LWS-Patienten wirkte der Lordosewinkel bei den ISG-Patienten nicht auf die sagittale Aufrichtung, sondern auf die frontale Rumpfaufrichtung (Faktor II) (Tab. 4 rechts) (Annahme 2.C Männer).
Ein Zusammenhang mittlerer Effektstärke zwischen iliosakralen Beschwerden und auffälligen Beckenstellungsparametern wurde für weibliche ISG-Patienten in der Beckentorsion ermittelt (η²=0,06) (Annahme 2.C Frauen); für den Beckenhochstand lagen keine Gruppenzugehörigkeitseffekte vor:
- Beckenhochstand [mm]: ISGges: 4 (8 / 1) vs. VG: 4 (7 / 2);rpbis=0,04 (η²=0,00).
- Beckentorsion [°]: ISG♀: 2 (5 / 1) vs. VG♀: 2 (3 / 1); rpbis=0,24 (η²=0,06).
- Beckentorsion [°]: ISG♂: 3 (5 / 2) vs. VG♂: 2 (4 / 1); rpbis=0,09 (η²=0,01).
Für die Zuordnung eines abgeflachten lumbosakralen Übergangs bei lumbal begründeten Beschwerden des unteren Rückens wurde für die LWS-Patienten in der Kennziffer Beckenneigung ein mittelstarker univariater Effekt ermittelt (Annahme 2.A Männer):
- BNG [°]: LWS♂: 16 (18 / 12) vs. VG♂: 19 (22 / 14); rpbis=0,26 (η²=0,07).
Im Lordosewinkel zeigten sich sowohl für Männer als auch für Frauen nur schwache Effekte:
- Lw-max [°]: LWS♀: 40 (44 / 30) vs. VG♀: 43 (48 / 36); rpbis=0,14 (η²=0,02).
- Lw-max [°]: LWS♂: 33 (36 / 26) vs. VG♂: 35 (39 / 32); rpbis=0,20 (η²=0,04).
Für die Differenzierung lumbaler und iliosakraler Beschwerden des unteren Rückens anhand der Lordosierung wurden sowohl für Frauen (Lw-max: η²=0,08) als auch für Männer (Lw-T12: η²=0,12) mittelstarke univariate Effekte in den Lordosewinkeln ermittelt (Annahme 2.B):
DISKUSSION
Die untersuchten Patienten mit Beschwerden des unteren Rückens unterschieden sich von einer beschwerdefreien Vergleichsgruppe durch eine signifikant ausgeprägtere sagittale Vorneigung (RNG) und Oberkörperauslenkung in der Frontalebene (Lot). Dabei stellte die Beckentorsion (BTS) im Verbund mit der Lotabweichung einen zusätzlichen unabhängigen Faktor zur Beschreibung der Wirbelsäulenform von Rückenschmerzpatienten dar (Annahme 1).
Röntgenologisch abgesicherte Befunde aus der Manualmedizin unterstreichen die Rolle der frontal-transversalen Beckenverwringung für Rückenpatienten (12). Die Rumpfneigung und Lotabweichung werden als Bruttokriterien der Wirbelsäulenform in der Sagittal- und Frontalebene interpretiert, weil sie Lordose-, Kyphose- und Skoliosewinkel integrieren (Abb. 1). Die ausgeprägte Rumpfneigung bei Rückenschmerzsyndromen kann aber auch durch das höhere Lebensalter der Patientengruppe und die damit einhergehende fortgeschrittene degenerative Kyphosierung erklärt werden (22). Die signifikant ausgeprägtere Lotabweichung der Patientengruppe stand jedoch in einem direkten Zusammenhang mit der Beckentorsion, der eine entscheidende Rolle für die Pathogenese von Rückenschmerzsyndromen zugeschrieben wird (12, 21). Außerdem wird die Relevanz der Kennziffern Rumpfneigung und Lotabweichung indirekt durch Trainingsstudien mit Rückenpatienten gestützt, wobei infolge des Trainings insbesondere diese integrativen Kennziffern positiv moduliert werden (16, 17). Bei der Verwendung der Rumpfneigung als Indikatorvariable für trainingsinduzierte Veränderungen bei Rückenbeschwerden muss allerdings berücksichtigt werden, dass eine sagittale Aufrichtung der Wirbelsäule durch verringerte Kyphosewinkel neutralisiert werden kann durch eine gleichzeitige Lordosierung (5).
Eine tendenziell flache Lordose als Hinweis auf lumbal begründete Beschwerden des unteren Rückens (Annahme 2.A) konnte durch die vorliegenden Ergebnisse nur unbefriedigend bestätigt werden. Lediglich bei Männern wurden mittelstarke Effekte (η²=0,07) für eine steilere Beckenneigung als Indiz für eine abgeflachte Lordose gefunden. Inhaltliche Hinweise auf lumbal begründete Beschwerden des unteren Rückens wurden multivariat eher der Ausprägung Brustkyphose als der Lendenlordose zugewiesen. Röntgenologische Befunde bei lumbalen Beschwerden mit Radikulärsymptomatik beschreiben zwar eine Lordoseabflachung durch eine systematische Retroposition des lumbosakralen Übergangs in Verbindung mit einer Ventralisierung des thorakolumbalen Übergangs. Der Befund kann aber auch andersartig begründet sein und genauso bei anderen Beschwerdebildern auftreten (12).
Eine im Vergleich mit lumbal begründeten Rückenbeschwerden deutlichere Lordosierung bei iliosakral begründeten Beschwerden (Annahme 2.B) wurde durch mittelstarke univariate Effekte für eine größere Ausprägung der Lordose bei ISG-Patienten gestützt (η²=0,08 bis 0,12). Faktorenanalytisch wurde die Ausprägung des Lordosewinkels bei LWS- und ISG-Patienten unterschiedlichen Komponenten zugeordnet. Die ausgeprägtere Lordosierung kann durch den Pathomechanismus von ISG-Dysfunktionen erklärt werden, bei dem die multifaktoriell begründete einseitige Beckenfehlstellung zu einer sakralen Nutation führt, die sich durch die gelenkigen Verbindungen auf die Stellung der unteren Lendenwirbelkörper auch im Sinne einer verstärkten Lordosierung auswirkt (12, 21). Rasterstereographische Funktionsaufnahmen zur Analyse der Skelettgeometrie untermauern nicht nur die Interdependenz der Beckenstellungsparameter untereinander, sondern auch die Einflüsse auf die Stellung der lumbalen Wirbelkörper bei funktionellen oder anatomischen Beckenschiefständen und orthopädischen Ausgleichsmaßnahmen (7).
Für einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Beckenstellungskennziffern und iliosakral bzw. lumbosakral begründeten Beschwerden des unteren Rückens fanden sich faktorenanalytisch Hinweise (Annahme 2.C). Beckenhochstand und -torsion laden bei ISG-Patienten nicht wie bei beschwerdefreien Personen auf einen unabhängigen Faktor ‚Beckenstellung’, sondern auf die frontale Oberkörperstellung und die sagittale bzw. die thorakolumbale Aufrichtung. Zu den typischen Schmerzlokalisationen und regional glutealen oder inguinalen Ausstrahlungen unterschiedlich begründeter ISG-Dysfunktionen kann es durch die gelenkige Verbindung der Beckenschaufeln zur Wirbelsäule nicht nur zu einer asymmetrischen sakralen Nutation und einer Beckenverwringung mit einer Rotation, Seitneigung und Lordosierung der unteren Lendenwirbel kommen, sondern auch zu lumbal lokalisierten Schmerzsyndromen bei ISG-Patienten (21).
Die vorliegenden Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen physiotherapeutischer Diagnostik. Auffällige Haltungsbefunde müssen nicht zwingend beschwerderelevant sein (19). So konnte der angenommene Zusammenhang zwischen Beckenschiefstand und iliosakralen Beschwerden nicht bestätigt werden. Die Beckenstellung wird isoliert über den einseitigen Beckenhochstand nur unzureichend operationalisiert, weil die Beckentorsion und die Lendenwirbelkörperstellung als permanent wirksame Covariablen (7, 12) in univariaten Analysen ausgeklammert werden. Univariate Analysen müssen daher kritisch betrachtet werden (7, 11).
Methodenkritisch muss angemerkt werden, dass der Altersunterschied zwischen Vergleichs- und Patientengruppen als intervenierende Variable nicht kontrolliert werden konnte. Die lediglich befriedigende Varianzaufklärung (3) der multivariaten Analysen von 60 bis 75% wird einerseits durch die Variationsbreite physiologischer Wirbelsäulenschwingungen (11, 12) und andererseits durch die Heterogenität der anfallenden Stichproben trotz der differenzierenden Beschwerdegruppenklassifizierung erklärt.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
In erster Näherung konnten Wirbelsäulenformkennziffern ermittelt werden, die im sportmedizinischen und orthopädischen Screening als Hinweise für eine Differenzierung klinischer Rückenschmerzsyndrome herangezogen werden dürfen. Es besteht jedoch dringlicher Forschungsbedarf für Folgeuntersuchungen, die ein differenziertes, diagnoseklassifiziertes Normensystem mit Morbiditätswahrscheinlichkeiten für Wirbelsäulenformvarianten erarbeiten (20, 23).
Danksagung
Dank gilt den Kooperationsprojektpartnern: Diers International GmbH, Orthopädiepraxis Buchholz & Partner in Hamburg, Institut für Sportmedizin e.V. an der Universität Hamburg (Ltg.: Prof. K.-M. Braumann und Prof. R. Reer).
Angaben zu finanziellen Interessen und Beziehungen, wie Patente, Honorare oder Unterstützung durch Firmen: Keine.
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Dipl. Sportwiss. Jan Schröder
Fakultät für Bewegungswissenschaft
Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaft
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