Neuroplastizität und Sport
ÜBERSICHT
Neurodegeneration und zelluläre Plastizität

Neurodegenerative Erkrankungen und zelluläre Plastizität als sportmedizinische Herausforderung

Neurodegenerative diseases and cellular plasticity as challenge to sports medicine

ZUSAMMENFASSUNG

Neurodegenerative Erkrankungen, wie vor allem die Demenz vom Alzheimertyp, sind sehr komplexe, multifaktorielle Erkrankungen. Sie zeichnen sich in der Regel durch einen chronischen Verlauf mit sehr langer, klinisch stummer Vorlaufphase aus. Diese Latenzphase, während der die Erkrankung nicht manifest geworden ist, eröffnet die Möglichkeit zu gezielter oder allgemeiner Prävention. Denn während es bis heute kaum nachhaltig wirksame kausale Therapieoptionen für die wichtigsten neurodegenerativen Erkrankungen gibt, sind die Risikofaktoren zum Beispiel im Falle des Morbus Alzheimer zu einem geschätzten Drittel potentiell modifizierbar.
Unter diesen hat körperliche Aktivität eine herausragende Stellung.Ihre Bedeutung ist sehr gut dokumentiert, wobei aber viele Details, z.B. zur Art und Stärke der sportlichen Betätigung, noch unklar sind. Die zu Grunde liegenden neurobiologischen Mechanismen sind bis heute kaum verstanden. Die Abgrenzung zwischen Sport und normaler alltäglicher Bewegung ist schwierig. Die Entwicklung konkreter mechanistischer Hypothesen erlaubt es aber, die Interventionen auf Ebene der Lebensführung zu konkretisieren und zu optimieren. Diese Hypothesen wandeln sich derzeit von der Vorstellung, daß es sich bei den Auswirkungen von Sport auf das Gehirn um positive Nebeneffekte handelt, zu der Idee, daß hier primäre Rückkopplungen zu Tage treten, weil Nervensysteme überhaupt entstanden sind, um Motilität zu ermöglichen.
Um erfolgreich präventiv wirksam zu werden, ist allerdings in jedem Fall eine frühzeitige Integration sportlicher Aktivität und Bewegung in das Alltagsleben erforderlich. Aus sportmedizinischer Sicht erschließen sich hier wichtige Betätigungsfelder, die zwar nicht grundsätzlich neu sind, aber in der Vergangenheit wenig wahrgenommen wurden.

SCHLÜSSELWÖRTER: Plastizität, Lernen, Alzheimer, Demenz, Hippocampus, Adulte Neurogenese

SUMMARY

Neurodegenerative diseases, including Alzheimer’s disease, are complex multifactorial disorders. They are usually characterized by a chronic course of the disease and very long, clinically silent latency phase. This prolonged latency, during which the disease has not yet manifested itself, opens up the opportunity for targeted or general prevention. While there are to date hardly any lasting and causal therapeutic options for the most important neurodegenerative diseases, in the case of Alzheimer’s disease, for example, an estimated one third of the risk factors is potentially modifiable.
Among these physical activity has a prominent position.Its relevance is very well documented, but many details, for example with respect to type and extent of sporting activity, remain unclear. The underlying mechanisms are poorly understood to date. Distinction between effects of actual sports and physical activity in daily living are difficult. The development of specific mechanistic hypotheses permits, however, to pursue more concrete and optimized lifestyle interventions. These hypotheses currently transform from the perception that the consequences of sports on the brain are simply positive side effects to the idea that here specific primary feedback mechanisms become visible, because nervous systems in the first place evolved to permit motility.
In order to be successful with prevention,an early integration of sports and motility into the routines of daily life is required. From the perspective of sports medicine this opens important fields of activity, which are not fundamentally new but in the past have been little acknowledged.

KEY WORDS: Plasticity, Learning, Alzheimer, Dementia, Hippocampus, Adult neurogenesis

EINLEITUNG

Der demographische Wandel mit der relativen und absoluten Zunahme der Zahl älterer Mitbürger führt zu einer Verlagerung der Medizin zu geriatrischen Fragestellungen und Problemen und verändert naturgemäß auch die Sportmedizin.
Das betrifft zunächst selbstverständlich die Veränderung sportmedizinischer Aufgaben durch sich ändernde Bedürfnisse älterer Sportler. Es berührt aber auch die Erschließung neuer Aufgaben und Möglichkeiten in der Prävention und Therapie chronischer, altersabhängiger Erkrankungen, im Kontext dieses Artikels vor allem auch der neurodegenerativen Erkrankungen. Da Sportmedizin weder krankheits- noch organbezogen agiert, ist sie als primär interdisziplinär ausgerichtetes Fachgebiet in einer idealen Ausgangsposition den breiten medizinischen Herausforderungen des Alterns präventiv und therapeutisch etwas entgegenzusetzen.

DIE OFT UNTERSCHÄTZTE BEDEUTUNG MODIFIZIERBARER RISIKOFAKTOREN

Eine Metaanalyse von Norton und Kollegen hat ergeben, daß im Falle der Alzheimerdemenz die sieben potentiell modifizierbaren Risikofaktoren (Diabetes, Bluthochdruck im mittleren Lebensalter, Übergewicht im mittleren Lebensalter, Rauchen, Depression, niedriger Bildungsstand und körperliche Inaktivität) knapp ein Drittel des relativen Risikos erklären (14). Unter diesen ist körperliche Inaktivität der wichtigste und theoretisch am einfachsten zu behebende Einzelfaktor. Norton et al. spekulieren, daß wenn es gelänge die sieben Risikofaktoren nur um je 10 % zu reduzieren, dies die Prävalenz der Alzheimerdemenz im Jahre 2050 um 8.3 % niedriger ausfiele als ohne diese Intervention (14).

BEWEGUNG, PHYSIOTHERAPIE UND SPORT SIND NICHT DAS GLEICHE

Der Einsatz von Bewegung als präventive und therapeutische Intervention ist dabei grundsätzlich in einer großen Breite von Angeboten zwischen Wellness, Sportverein, Sozialarbeit und medizinischen Dienstleistungen möglich und nicht primär an ärztliche Tätigkeit gebunden. Innerhalb der Medizin ist der Einsatz von Bewegung sowieso nicht auf einzelne Fachgebiete festgelegt und wird breit eingesetzt. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sagen beispielsweise in ihrer gemeinsamen Leitlinie zu den Demenzen (Empfehlung 88): „Regelmäßige körperliche Bewegung und ein aktives geistiges und soziales Leben sollten (zur Prävention) empfohlen werden.” Das ist noch keine sehr harte Maßgabe, aber immerhin ein erster evidenzbasierter Schritt.
Wie in diesem Fall liegt der Schwerpunkt in der Regel auf allgemeineren Empfehlungen zur Lebensführung, in der die Aufforderung zu mehr Bewegung mittlerweile einen festen Platz hat, seltener als spezifische Intervention. Die wichtigste Ausnahme liegt im Kontext physiotherapeutischer Maßnahmen, wo eine spezifische Indikation gestellt wird. Das ist bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen allerdings weit seltener der Fall als bei rehabilitativen oder auch präventiven Maßnahmen in anderen Zusammenhängen.
In jedem Fall werden Physiotherapie und Sport von Patienten oft als grundsätzlich verschiedene Dinge wahrgenommen, nicht zuletzt weil auch Leistungssportler medienwirksam der Physiotherapie bedürfen und auch weil Physiotherapie viele passive, angenehme Maßnahmen wie Massagen und Wärmebehandlungen enthalten kann. Wenn es um konkrete präventive oder rehabilitative Ziele geht, ist die Unterscheidung von Physiotherapie und Sport selbstverständlich gerechtfertigt, weil Physiotherapie konsequent und gezielt spezifische medizinische Notwendigkeiten in den Blick nimmt und behandelt und deshalb als sinnvolle Pflicht verstanden wird. Sport dagegen wird in der Regel als Freizeitaktivität nicht mit solchen Zielen verknüpft, sondern um seiner selbst willen betrieben oder mit eher allgemeinen Vorstellungen, etwas „für die Gesundheit“ zu tun, motiviert. Die Aufforderung, mehr Sport zu treiben (oder z.B. seine Ernährung umzustellen) überschreitet ärztlicherseits eine Grenze, die als eine Medizinierung und Verzweckung von Freizeitaktivitäten aufgefaßt wird und entsprechend oft eher ablehnend aufgenommen wird.
Wenn also allgemeine medizinische Gewinn durch Bewegung an die konkreten Zwecke der in der Regel begrenzten physiotherapeutischen Intervention gekoppelt wird und mit dem Wegfall einer physiotherapeutischen Behandlung Bewegung weitgehend wieder eingestellt wird, ist für die weiteren Ziele nichts gewonnen. Ärztlich verschriebener Sport, sei es im physiotherapeutischen Kontext oder außerhalb, kämpft mit den gleichen (oder größeren) Compliance-Problemen wie andere langfristige Verordnungen auch. Das ist insbesondere, wenn sehr chronische Erkrankungen mit sehr langer klinisch stummer Latenzphase im Zentrum der Aktivitäten stehen, ein massives Problem. Neurodegenerative Erkrankungen werden fast durchweg spät manifest, besitzten eine lange klinisch stumme Latenz und sind chronisch. Es gibt zwar kaum ein einfacheres Mittel, etwas für sein Gehirn zu tun als Bewegung (2), aber der Popularität hat das wenig genützt.
Bewegung zur Prävention von altersabhängigen chronischen Erkrankungen profitiert extrem von frühem Beginn und konsequenter Durchführung des Sports. Dabei ist „Sport“ hier extrem weit gefaßt, denn die verfügbaren Daten legen nahe, daß bereits relativ minimale Steigerungen von Bewegung, ja bekanntermaßen schon eine Reduktion der sitzend verbrachten Zeit ,medizinischen Nutzen bringen. Die Empfehlungen sprechen in der Regel von 20 bis 30 Minuten „moderater“ körperlicher Aktivität an den meisten Tagen der Woche, wobei die Stufe „moderat“ schon durch Treppensteigen erfüllt wird. Das aber wirft vor allem ein Licht auf die Realität der epidemiologischen Situation, die derartigen Empfehlungen zu Grunde liegt. Wenn bereits dermaßen geringfügige Steigerungen statistisch relevante Wirkungen in großen Populationen bewirken, deutet dies vor allem auch darauf hin, wie extrem niedrig das Grundniveau ist. Bei Interventionen durch Bewegung besteht nämlich ein starker „diminished return“. Der gesundheitliche Nutzen davon, sich überhaupt statt gar nicht (oder kaum) zu bewegen, ist viel größer als eine vergleichsweise viel größere Steigerung des Aufwands bei jemandem, der schon sportlich aktiv ist.
Dieses Phänomen wird umgekehrt in populären Programmen wie „Die ersten 20 Minuten“ etc. ausgenutzt, weil die Tatsache, daß in diesem Zusammenhang einmal wenig schon viel hilft, die Motivation zunächst sehr erleichtert (16). Erfolgserlebnisse sind am Anfang am größten. Für den langfristigen und medizinisch relevanten Nutzen, vor allem im Kontext der neurodegenerativen Erkrankungen, aber kommt es auf eine nachhaltige Veränderung des Lebensstils an, in dem Bewegung und Sport eine integrale Bedeutung haben und der nicht der dauernden Motivation bedarf. Dies kann nur gelingen, wenn der „neue“ Lebensstil als normal, richtig und subjektiv „besser“ empfunden wird und die damit verbundene Anstrengung nicht mit recht abstrakten gesundheitlichen Fernzielen kognitiv und rational begründet und motiviert werden muß.

KÖRPERLICHE AKTIVITÄT HILFT DER HIRNFUNKTION

Georg Kuhns aufsehenerregende Befunde auf Grundlage der Musterungsdatenbank des schwedischen Militärs, daß der körperliche Fitneßzustand im Alter von achtzehn Jahren nicht nur die kognitive Leistungsfähigkeit (1) sondern auch in beachtlichem Maße das Risiko späterer dementieller Erkrankungen vorhersagte (15), legt nahe, daß die Weichen für diese Umstellung idealerweise sehr frühzeitig gestellt werden. Dies hätte selbstverständlich auch bereits unmittelbaren Nutzen im Kindesalter. Wenn „mehr Bewegung“ aber dauerhaft Teil des eigenen Lebensentwurfs wird, wäre der Gewinn maximal (1). Aus den schwedischen Daten ergibt sich selbstverständlich nicht unmittelbar, daß Interventionen im Kindesalter das beschriebene Verhältnis im Alter von 18 Jahren (und damit die weiteren Prognosen) notwendigerweise günstig beeinflussen würden. Longitudinale Kohortenstudien, die die Lebensspanne abdecken, existieren hierzu noch nicht, aber vorhandene Studien legen die Effektivität nahe (3). Allerdings wird die alternative Vorstellung, daß das beschriebene Verhältnis vollständig genetisch determiniert und der Veränderung durch eigene Aktivität überhaupt nicht zugänglich wäre, auch durch buchstäblich nichts gestützt. Offen ist die Effektgröße, und hier ist zu vermuten, daß sie doch eher noch unter- als überschätzt wird, weil über eine vielleicht angebrachte Stratifizierung der Population nichts bekannt ist. Nicht alle werden gleichermaßen von allem profitieren und genetische Faktoren werden an dieser Stelle entscheidend. Hier tun sich weite, genuin sportmedizinische Forschungsfelder auf. Das Problem der fehlenden Studien und die grundlegende Unmöglichkeit, im Zusammenhang mit Interventionen in der Lebensführung doppelblinde plazebokontrollierte Studien überhaupt durchführen zu können, bleibt freilich. Andererseits ist dies mitunter auch eine Ausflucht, denn insgesamt ist praktisch keine andere Intervention so vielfältig und umfangreich untersucht worden, wie körperliche Aktivität. Außerdem kann man sich getrost fragen, warum im Falle von Bewegung ein etwaiger Plazeboeffekt aus der Betrachtung herausgerechnet werden sollte. Daß Interventionen durch Sport nicht nur auf Plazeboeffekte zurückzuführen sind, ist mittlerweile durch geschickt gewählte Kontrollbedingungen in prospektiven Studien gut gesichert (7). Da Bewegung eine in aller Regel höchst nebenwirkungsarme Maßnahme ist, entstünde durch Plazebosport ein weit geringerer Schaden und immer noch ein Nutzen als im Falle eines unwirksamen, aber potentiell nebenwirkungsträchtiges Medikaments.
Wenn gleich es sicherlich korrekt ist, daß Bewegung an sich nebenwirkungsfrei ist, so ist Sport das nicht notwendigerweise, und der Übergang ist fließend. Und keineswegs alle Sportarten und -intensitäten sind gleichermaßen gesundheitsfördernd. Der „diminished return“ kippt im Falle von Leistungssport oft ins Gegenteil, und die gesundheitlichen Nachteile überwiegen. Es gibt jedoch noch keine umfassenden Untersuchungen, die die vielen positiven Effekte von Bewegung in Bezug zu dieser Problematik setzten. Während die vorhandene Literatur vor allem betont, daß es die kardiovaskuläre Aktivierung und Fitneß sind, die mit positiven Auswirkungen auf die Gesundheit des Gehirns verknüpft ist, ist die Bedeutung von zum Beispiel Krafttraining einfach nur viel schlechter untersucht. In den schwedischen Rekrutendaten fand sich eine Korrelation zwischen körperlicher Kraft und kognitiver Leistung allerdings nur im unteren Drittel (1). Die wegweisenden prospektiven Studien von Arthur Kramer haben als Kontrollgruppe Probanden eingesetzt, denen durch Ambiente und Aufmerksamkeit durch Trainer etc. suggeriert wurde, daß sie Sport betrieben, in Wahrheit aber nur minimal wirksame Stretching Übungen durchführten. Die beschriebenen positiven Effekte auf kognitive Leistungsfähigkeit stellen sich in der Regel als Differenz zu der Gruppe mit kardiovaskulärem Training dar (7). Es gibt allerdings erste Hinweise, daß Krafttraining in Maßen ebenfalls mit ähnlichen positiven Wirkungen verknüpft ist (12). Dies ist wegen der endokrinen Funktionen der aktivierten Muskulatur immer vermutet worden. Der Bezug zur kardiovaskulären Fitneß ist aber unklar.

WARUM IST BEWEGUNG GUT FÜR DAS GEHIRN?

Weitgehend unklar ist auch, warum und wie sich gesteigerte kardiovaskuläre Fitneß überhaupt auf die geistige Gesundheit auswirkt. Mechanistisch ist dies bislang kaum verstanden. Während die meisten Menschen den Zusammenhang als plausibel empfinden, tun sich im Detail viele Widersprüche auf. Zum Beispiel wird sehr weithin angenommen, daß zirkulierende Faktoren die entscheidenden Mediatoren sind, allen voran schlicht eine „bessere“ Durchblutung oder höhere Oxigenierung. Harte mikrozirkulatorische Daten liegen hierzu aber nicht vor. Grundsätzlich verfügt das Gehirn über eine sehr starke Autoregulation des Blutflusses, der in sehr engem Rahmen konstant gehalten beziehungsweise den Bedürfnissen des Gehirns angepasst werden kann. Unter extremen körperlichen Belastungen ist eher anzunehmen, daß die Durchblutung sinkt. Andererseits aber mögen viele Effekte auch auf eine Art Reboundphänomen nach der Belastung zurückzuführen sein. In keinem Fall aber erlauben diese Vorstellungen eine gute Erklärung für die Wirksamkeit schon sehr geringer Aktivitätssteigerungen. Seit den wegweisenden Arbeiten von Carl Cotman und Kollegen stehen daher im weitesten Sinne endokrine Mechanismen im Zentrum der Erklärungsversuche, allem voran natürlich Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF) (13). Es gibt jedoch ähnliche Berichte auch für IGF1, VEGF, FGF1 und andere, was die Befunde zu BDNF nicht entwertet, aber die spezifische Bedeutung jedes einzelnen Faktors in Frage stellt und die Frage aufwirft, wie diese Signalvielfalt entschlüsselt wird (9). Wahrscheinlich hat man es mit einem komplexen Konzert potentiell oder wirklich wirksamer zirkulierender Faktoren zu tun. Dabei muß, um überhaupt wirksam zu sein, ein Faktor nicht einmal die Bluthirnschranke überwinden (können). Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist nicht, ob zirkulierende Faktoren (zu denen selbstverständlich auch alle Arten von Hormonen gehören könnten, die nur in diesem Kontext bisher wenig untersucht wurden) positive Wirkungen von körperlicher Aktivität auf die zerebrale Gesundheit vermitteln könnten. Das werden sie tun (5). Wichtiger ist der Punkt, ob diese Mechanismen Haupt- oder Nebenschauplätze sind. Für nachhaltige, chronische Regulation erscheinen sie schlechte Kandidaten, weil es sich grundsätzlich um pleiotrope Faktoren handelt, deren Rezeptoren im engen Wechselspiel mit dem Vorhandensein des Liganden reguliert werden. Alle Versuche, die ihre Wirksamkeit belegen, sind unter relativ akuten Bedingungen im Tier durchgeführt worden.

BEWEGUNG WIRKT DIREKT AUF DAS GEHIRN

Es liegt wahrscheinlich näher, das Zentrum der Regulation jener Prozesse, die körperliche Aktivität neuroprotektiv machen, im Gehirn selbst zu suchen. Evolutionär betrachtet sind Nervensysteme entstanden, um Motilität zu ermöglichen, und jegliche Efferenz des Gehirns ist motorisch. Am Ende ist auch jedes Verhalten motorisch und seinerseits wieder mit sensorischen Afferenzen verknüpft. Diese Afferenzen betreffen die äußere Welt, aber zu einem großen Teil auch die Propriozeption: die Wahrnehmung der Position und Bewegung des eigenen Körpers im Raum. Konkret gibt es hierzu bislang kaum Untersuchungen, aber einzelne Studien legen nahe, daß Neurotransmittersysteme für die Vermittlung der positiven Wirkungen mindestens so relevant sind, wie die systemischen Faktoren. Hierzu gehören zentrales Serotonin und das Cannabinoidsystem (10, 18). Daten zum cholinergen System sind noch nicht schlüssig (8). In vitro aber wurden neuronale Vorläuferzellen, wie sie im erwachsenen Hippocampus vorkommen und Grundlage der dortigen adulten Neurogenese sind, durch nach Stimulation mit Glutamat aus Nervenzellen sezerniertem BDNF zur Entwicklung angeregt (4). Neuronale Aktivität ist freilich nicht auf Lokomotion beschränkt, aber es ist andererseits bekannt, daß Bewegung die Synchronisation intrinsischer Rhythmen (vor allem Theta) begünstigt, die ihrerseits Lernen fördern. An dieser Stelle deutet sich an, daß motorische und kognitive Aktivität am Ende nicht trennbar sind. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu der Hypothese, daß deshalb auch das Miteinander von Motilität und Kognition der Motor bleibender Hirnplastizität im Alter ist. Die Schlußfolgerung dürfte sein, daß es auf Aktivität in einem sehr breiten Sinne ankommt, nicht auf Sport allein. Die Entschlüsselung der Mediatoren ist freilich nur ein Aspekt der neurobiologisch fundierten Aufklärung der zu Grunde liegenden Mechanismen. Entscheidend wird sein, die zellulären und molekularen Prinzipien aufzuklären, die zu der Bildung einer so genannten „neuralen Reserve“ beitragen, die angesichts von altersabhängigen kognitiven Verlusten und Neurodegeneration Kompensation erlauben. Dabei ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand zwar nicht auszuschließen, daß es auch unmittelbare Auswirkungen auf das Krankheitsgeschehen selbst geben könnte, weitgehend wird aber vermutet, daß „Training“ eher die Resilienz des Gehirns erhöht, in dem es die Kompensationsfähigkeit erhöht und verlängert. Im Falle der Alzheimerdemenz beispielsweise, für das letztlich kein gutes Tiermodell existiert, wohl aber diverse Tiermodelle, die Aspekte des pathogenetischen Geschehens abbilden, haben die vorhandenen experimentellen Daten zwar sehr weitgehend einhellig übereinstimmend positive Befunde geliefert, auf mechanistischer Ebene allerdings eher für Verwirrung denn für Klärung gesorgt. Die Schlußfolgerung muß sein, daß es wahrscheinlich positive direkte Wechselwirkungen zwischen Lebensführung und Bewegung und der Pathogenese neurodegenerativer Erkrankungen gibt, allerdings noch ein erheblicher Forschungsaufwand, sowohl im Tier wie beim Menschen, erforderlich ist, um diese Zusammenhänge aufzudecken. Die Herausforderung ist immens, vor allem wegen der Komplexität der Erkrankungen und der Dauer ihrer Verläufe selbst, der mögliche Gewinn allerdings auch. Auch Kompensation und Reservenbildung freilich rechtfertigen den Einsatz von Bewegung und Sport in der Prävention und partiell auch Therapie neurodegenerativer Erkrankungen.

BEWEGUNG FÖRDERT DIE NEUBILDUNG VON NERVENZELLEN

Die verfügbaren Tierversuche legen übereinstimmend nahe, daß Bewegung zu sehr vielfältigen Veränderungen im Gehirn führt. Es gibt sogar beim Menschen nachweisbare, sportinduzierte Größenveränderungen im Hippocampus, deren Natur sehr vorsichtig zu interpretieren ist, die aber zumindest die prinzipielle Veränderbarkeit der Hirnstruktur eindrucksvoll belegen (6). Die Neubildung von Nervenzellen im erwachsenen Hippocampus, die so genannte „adulte Neurogenese“ ist das Extrembeispiel solcher struktureller Plastizität. Hier werden lebenslang aktivitätsabhängig neue Nervenzellen in das hippocampale Netzwerk eingebaut. Sie unterstützen die Separierung einzelner Inhalte, erlauben die Kontextualisierung in räumlicher, zeitlicher und affektiver Hinsicht und erhöhen die kognitive Flexibilität, neue Inhalte in vorbestehende Kontexte zu integrieren. Im Tierversuch, steigert körperliche Aktivität die adulte Neurogenese kurz- und langfristig, was, so die Hypothese, zu einer „neurogenen Reserve“ beiträgt. Die genannten Funktionen sind im Zusammenhang von Demenzen häufig betroffen, auch wenn ihr Verlust kein Kardinalsymptom der betreffenden Erkrankung ist. Ihr Erhalt würde den Patienten also nützen, auch wenn sich am pathogenetischen Geschehen selbst nichts ändert. Adulte hippocampale Neurogenese finden wir nachweislich beim Menschen (17). Die Regulation durch Bewegung ist leider mit verfügbaren Methoden nicht zu untersuchen. Hier liegt eine der größten Herausforderungen für interdisziplinäre Forschung in diesem Bereich.
Adulte Neurogenese ist freilich ein Sonderfall. Als weiteres Beispiel zellulärer struktureller Plastizität, die durch Bewegung beeinflusst wird, ist die Reaktivität so genannter NG2 Zellen, die sehr zahlreich sind, mit vielen Eigenschaften zwischen denen von Neuronen und Gliazellen stehen und letztlich eine noch immer unbekannte Funktion haben . Hier besteht nach wie vor großer Forschungsbedarf. Das Gros plastischer Veränderungen spielt sich auf der Ebene der Synapsen und Neuriten ab und entzieht sich ebenfalls der unkomplizierten Nachweisbarkeit. Auch hier lassen die verfügbaren Daten aus dem Tierversuch aber vermuten, daß das was bekannt ist, nur die Spitze des Eisberges darstellt und sich das Gehirn auch auf dieser Ebene in hohem Maße als sensitiv gegenüber bewegungsinduzierten strukturellen Veränderungen erweist. Solche Veränderungen müssen untersucht werden, es ist aber nicht gegeben, daß Veränderungen dieser Art funktionell relevant sein müssen. Auch die Richtung des Effektes könnte am Ende kontraintuitiv sein: eine Vergrößerung ist nicht zwangsläufig „gut“.
Neben körperlicher Aktivität senkt vor allem auch ein hohes Bildungsniveau das Risiko, eine Demenz zu entwickeln (14). Allerdings ist gute Bildung auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verknüpft, körperlich aktiv und gesund zu leben, so daß es nicht trivial ist, die unabhängige Bildungskomponente zu bestimmen. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten mag das manchmal unbefriedigend sein, es bedeutet umgekehrt aber auch, daß man wahrscheinlich über die vergleichsweise gradlinige Beeinflussung der körperlichen Aktivität eine Vielzahl direkter und indirekter Nebeneffekte im kognitiven Bereich erzielt. Die Studienlage hierzu ist naturgemäß sehr dünn, aber der Frage des Stellenwertes, der dem Schulsport eingeräumt wird, kommt entscheidende Bedeutung zu (11). Denn wenn es stimmt, daß, wie die Literatur nahelegt, guter Schulsport die körperliche Fitneß der Kinder nachhaltig zu erhöhen vermag, und diese sich in der Tat in verbesserter Schulleistung niederschlägt, hätte eine frühe Intervention zur Folge, daß sich die Verteilung des im Alter von 18 Jahren für die schwedischen Rekruten beschriebenen Zusammenhangs von körperlicher und geistiger Fitneß zugunsten günstigerer Ausgangspositionen verschieben würde. Wenn es sich weiterhin als zutreffend herausstellte, daß diese Ausgangslage einen hohen (wenn auch ausdrücklich nicht ausschließlichen) prädiktiven Wert für die kognitive Gesundheit im Alter und die zumindest partielle Prävention neurodegenerativer Erkrankungen hat, stellt sich die Frage, welche Prioritäten im Maßnahmenkatalog zur Prävention zukünftiger Demenzen sinnvollerweise zu setzen sind.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Vor diesem Hintergrund gewinnt Sport gegenüber „nur“ einfach einem Plus an Bewegung wieder eine andere Bedeutung. Kein Kind wird Sport treiben oder sich mehr bewegen, weil ihm das im Rentenalter eine Risikominderung bescheren könnte. Selbst für die Eltern wird dies als Motivation nicht ausreichen, weder für ihre Kinder noch für sich selbst. Allgemeine Maßnahmen zur Verminderung sitzend verbrachter Zeit sind auch im Kindesalter möglich und sinnvoll. Der Nutzen von einem mehr an qualitativer Bewegung, die mit entsprechend höherer Aktvierung und stabiler Verbesserung der körperlichen Fitneß einhergeht, dürfte aber darüber weit hinausgehen, weil sehr langfristige Veränderungen möglich sind. Im Prinzip ist das im Erwachsenenalter und höheren Alter nicht anders, in der breiten praktischen Umsetzbarkeit und in der Nachhaltigkeit im Sinne einer frühzeitigen Einübung vorteilhafter Verhaltensmuster und des Weckens von bleibendem „Spaß“ an Bewegung aber sehr wohl.

LITERATUR

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Prof. Dr. med. Gerd Kempermann
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