Menschen mit Handicap und Sport
EDITORIAL

Menschen mit Handicap und Sport

Persons with Disabilities and Sports

Bewegung und körperliche Aktivität sind obligater Bestandteil von Gesundheit und gesunder Lebensführung (2). Dies gilt für Menschen mit Handicap in besonderem Maße, da bei ihnen die Prävalenz von Bewegungsmangel und chronischen Erkrankungen noch höher ist als in der Allgemeinbevölkerung und umgekehrt körperliche Aktivität nicht nur mit einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit und der Prävention vieler chronischer Erkrankungen einhergeht, sondern auch einen wichtigen Baustein in der sozialen Integration darstellt (1, 3).
Erfreulicherweise hat der Sport von Menschen mit Handicap in den letzten Jahren einen beachtenswerten Aufschwung erfahren. Insbesondere im Umfeld der paralympischen Spiele ist die Sogwirkung der paralympischen Bewegung besonders spürbar (4). Durch das veränderte Selbstbild erfolgreicher Sportler mit Handicap, hat sich sowohl deren Wahrnehmung als auch die Betrachtung sportlicher Aktivitäten von Menschen mit Handicap insgesamt zum Positiven gewandelt.
Darüber hinaus tragen innovative technische Entwicklungen in der Hilfsmittelversorgung dazu bei, dass Funktionseinschränkungen besser kompensiert und die technischen Ansprüche spezifischer Sportarten leichter und komfortabler erfüllt werden können. Dies bedeutet einerseits, dass Sportarten auf einem höheren und kompetitiveren Leistungsniveau durchgeführt werden können, anderseits aber auch, dass ebenso der Beginn sportlicher Betätigung für bislang sedentative Menschen mit Behinderungen vereinfacht wird.
All diese Gesichtspunkte haben dazu beigetragen, dass die Mitgliederzahlen des deutschen Behindertensportverbandes (DBS) bis 2013 kontinuierlich angestiegen sind, wobei in den 10 Jahren von 2003 bis 2013 fast eine Verdopplung der Mitgliederzahl erzielt wurde. Eine DOSB-Statistik aus dem Jahr 2009, die die 10 Spitzenverbände nach der Anzahl der DOSB-Lizenzen listet, verzeichnete den DBS nach dem Deutschen Turnerbund und dem Deutschen Fußballbund auf Rang 3. Dies verdeutlicht den Stellenwert einer qualitativ hochwertigen Übungsleiterausbildung, die bereits in der Rehabilitationsphase eines Menschen mit Handicap den Grundstein zu einem bewegten Leben legen kann. Darüber hinaus haben bemerkenswerte sozialpolitische Entwicklungen seit der Jahrtausendwende zu einer Verbesserung der Situation behinderter Menschen im Allgemeinen geführt. 2001 begann mit der Einführung der „International Classification of Functioning – ICF“ und deren Umsetzung unter der „Convention of Human Rights“ ein Paradigmenwechsel in der Betrachtungsweise. Statt Defiziten werden Funktionsfähigkeiten beachtet und statt Pflege, Betreuung und Fürsorge von Menschen mit Handicap deren Integration und Selbstbestimmung in den Vordergrund gerückt.
In der Bundesrepublik Deutschland gilt seit dem 1. Mai 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz, das die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen in Bereichen des öffentlichen Rechts regelt und die Umsetzung des Benachteiligungsverbotes aus Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, beinhaltet. Diese politischen Entwicklungen gipfelten 2008 in der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention, in der das Leitbild der Inklusion „zum Wohle aller“ geprägt wurde.
Da unter Inklusion die vollständige Integration von Menschen mit Handicap zum Wohl der Allgemeinheit verstanden wird, steht dieser Begriff in seiner Bedeutung über allen vorherigen Begriffen wie Rehabilitation, Teilhabe, Gleichstellung und Gleichberechtigung und schließt den geschilderten Paradigmenwechsel ab. Dass in der praktischen Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben weiterhin noch viele Hürden genommen werden müssen, wird spätestens klar, wenn man einige Tage mit Menschen im Rollstuhl zusammen verbringt oder selbst einmal auf Gehilfen angewiesen ist. Dabei fällt nicht nur auf, dass Barrierefreiheit sehr häufig noch unzureichend umgesetzt ist, sondern auch, dass das Erreichen bestimmter Ziele für Menschen mit Handicap oft nur unter wesentlich höherer körperlicher Anstrengung möglich ist.
Dies wiederum verdeutlicht die Bedeutung physischer Fitness für die Selbstbestimmung und Selbstversorgung, da ohne die entsprechenden körperlichen Voraussetzungen viele alltägliche Hindernisse buchstäblich unüberwindbar bleiben. In Hinblick auf Gesundheit findet sich in der „Convention of Human Rights“ folgender Passus: „Staaten müssen erkennen, dass Personen mit Behinderungen ohne Diskriminierung durch ihre Behinderung das Recht auf einen höchstmöglich zu erreichenden Gesundheitsstatus haben (Art. 25)“. Dieses Ziel zu erreichen ist nicht nur Aufgabe der Gesetzgeber, sondern auch unsere ärztliche Aufgabe in der täglichen Arbeit mit Patienten. Mediziner, aber auch Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, Psychologen, Sportwissenschaftler, Trainer und Übungsleiter sollten ihre individuellen Möglichkeiten nutzen, um Menschen mit Handicap Ressourcen und Wege aufzuzeigen, den für sie persönlich „höchstmöglich zu erreichenden Gesundheitsstatus“ zu erlangen. Unter anderem ist eine engagierte Beratung bezüglich geeigneter körperlicher Aktivitäten und entsprechender Sportgeräte und Hilfsmittel, aber auch die Vermittlung von Anlaufstellen wie Rehabilitationssportgruppen und Selbsthilfegruppen entscheidend, um Menschen mit Handicap an Bewegung heran zu führen.
Der gesetzlich geregelte Rehabilitationssport ist dabei ein wertvolles Instrument, um die positiven Effekte von Bewegung nachhaltig zu vermitteln. In Deutschland ist der Rehabilitationssport eine ärztlich verordnete Leistung der Sozialkassen mit dem Ziel, Menschen mit Handicap eine weitestgehende Partizipation in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Patienten mit kardiologischen, pneumologischen, angiologischen, neurologischen, nephrologischen aber auch neoplastischen, psychiatrischen, orthopädischen und rheumatologischen Erkrankungen wird die Möglichkeit gegeben, für einen gewissen Zeitraum, ärztlich überwacht und krankenkassenfinanziert, zu trainieren. Kardiopulmonale und neuromuskuläre Rehabilitation stellen dabei die wesentlichen Elemente dar, wobei die sportliche Betätigung viele weitere positive Aspekte vereint, unter anderem die Steigerung des Selbstwertgefühles und des Wohlbefindens, die Verbesserung der Autonomie und Lebensqualität und die Sozialisation mit Gleichgesinnten.
Oft ist der Rehabilitationssport Einstieg in ein lebenslanges sportliches Engagement im Breiten- oder Leistungssport und somit ein wertvolles Instrument, körperliche Aktivität in der Gesellschaft insgesamt zu fördern. Im diesem Sinne ist es höchst erfreulich, dass der Sport mit Handicap im aktuellen Heft in den Fokus rückt.
Die beiden Beiträge zu Huntington und Sport sowie Sporttherapie bei Multipler Sklerose geben einen fundierten Überblick über die Effekte sportlicher Betätigung bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Zusätzlich liefern zwei Übersichtsartikel aus dem Leistungssport umfassende Informationen zum Sport mit modernen Exoprothesen und Verletzungen paralympischer Athleten und schlagen so den Bogen zu einer differenzierten Betrachtung des Sports von Menschen mit Handicap – vom Rehabilitations- bis hin zum Leistungssport.

Anja Hirschmüller, Freiburg

LITERATUR

  1. BLAUWET C, WILLICK SE. The Paralympic Movement: using sports to promote health, disability rights, and social integration for athletes with disabilities. PM R. 2012; 4: 851-856.
    doi:10.1016/j.pmrj.2012.08.015
  2. LÖLLGEN H. Gesundheit, Bewegung und körperliche Aktivität. Dtsch Z Sportmed. 2015; 66: 139-140.
    doi:10.5960/dzsm.2015.184
  3. VAN DE VLIET P. Paralympic athlete‘s health. Br J Sports Med. 2012; 46: 458-459.
    doi:10.1136/bjsports-2012-091192
  4. WEBBORN N. London 2012 Paralympic Games: bringing sight to the blind? Br J Sports Med. 2013; 47: 402-403.
    doi:10.1136/bjsports-2013-092340
PD Dr. Anja Hirschmüller
Universitätsklinikum Freiburg
Klinik für Orthopädie und Traumatologie
Sektion Sportorthopädie und -traumatologie
Hugstetterstrasse 55, 79106 Freiburg
anja.hirschmueller@uniklinik-freiburg.de