Sportmedizin & Leistungssport
EDITORIAL

Die deutsche Sportmedizin und der Leistungssport – ein historischer Rückblick

The German Sports Medicine and the High-Performance Sports –
a Historical Retrospective

Die Sportmedizin ist in erster Linie eine präventive und rehabi­litative Medizin, man kann sie auch als Bewegungsmedizin bezeichnen. An der Spitze der Bewegungspyramide steht aber der Leistungssport, der meist mit dem Begriff Sport assoziiert wird. Zu den sportmedizinischen Kernkompetenzen gehören die Gesunder­haltung der Athleten/innen, deren ärztliche Betreuung während des Trainings und im Wettkampf und eine sowohl grundlagenori­entierte als auch angewandte leistungsmedizinische Forschung. Die deutsche Sportmedizin kann auf eine lange leistungssportliche Tradition zurückblicken.
Hollmann hat nicht zu Unrecht den Leistungssport als biologi­sches Experiment bezeichnet. Vieles, was sich unter Extrembedin­gungen bewährt hat, wurde in die Bewegungsmedizin übernom­men. Physiologische und biochemische Erkenntnisse des Sports revolutionierten die Therapie verschiedener Erkrankungen. Ich selbst habe als junger, frisch von der Universität gekommener Arzt noch erlebt, wie Herzinfarktpatienten sechs Wochen lang strenge Bettruhe einhalten mussten. Trainingsmethodische Prinzipien des Leistungssports wurden zur Grundlage für präventive und rehabi­litative Trainingsprogramme. Inzwischen werden sogar hochinten­sive Intervallbelastungen, auch als HIT bezeichnet, in das Training von Herzpatienten integriert (12). Die deutsche Sportmedizin hat diese Entwicklung erheblich beeinflusst (1, 3, 9).
Chronologisch betrachtet hat Reindell, von 1960 bis 1984 Prä­sident des damaligen Deutschen Sportärztebundes DÄSB, mit sei­nen Forschungen über das Sportherz schon in den 1950er Jahren die physiologischen Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit aus kardialer Sicht prognostiziert und auch keinen Konflikt mit den klinischen Kardiologen gescheut. Aufgrund elektrokardiogra­phischer und röntgenologischer Befunde hat er wesentliche Kri­terien für die Differenzialdiagnose zwischen physiologischer und pathologischer Herzhypertrophie definiert (9). Seine späteren Mit­arbeiter ergänzten die Untersuchungen durch metabolische und hämodynamische Befunde (4, 6). Aus den 1950er Jahren stammt auch die Methode der röntgenologischen Herzvolumenbestim­mung des gesunden untrainierten und trainierten Herzens (9), die inzwischen wegen der fehlenden Strahlenbelastung durch die echokardiographische Methode abgelöst wurde. Leider hat Rein­dell ausschließlich in deutscher Sprache publiziert, so dass bei manchen internationalen Publikationen der jüngeren Jahrzehnte der Eindruck entstehen konnte, das Rad werde neu erfunden. In einer internationalen Publikation aus dem Jahr 1984 sind die da­maligen Erkenntnisse zum Sportherz übersichtlich zusammenge­fasst (10).
Ein Sportherz ist aber noch kein Garant für Spitzenleistungen. Athleten mit den größten Herzen sind nicht zwangsläufig die er­folgreichsten. Dementsprechend hat Keul in den 1960er Jahren die Energiebereitstellung im Skelettmuskel und dessen Adaptationen unter körperlicher Belastung untersucht und damit wesentliche Impulse für spätere Forschungen auf diesem Gebiet gesetzt (5).Die von Knipping und Brauer 1929 entwickelte Spiroergometrie und die nachfolgenden apparativen Verbesserungen ermöglich­ten in den 1950er Jahren gut dosierbare und reproduzier­bare kardiopulmonale Unter­suchungen, so dass bereits damals maximale Sauerstoff­aufnahmewerte von über 5 l/min gemessen wurden (2). Gekoppelt waren diese Untersuchungen an Fahrrad­ergometer, die ebenfalls in der damaligen Zeit konstru­iert worden. Daraus entwi­ckelte sich Ende der 1950er Jahre das Belastungs­EKG mittels Fahrradergometrie (im Gegen­satz zu den Treppentests, z.B. Master­Steptests, in Nordamerika). In Deutschland wurde das Belastungs­EKG primär in der Sport­medizin eingesetzt, bevor es seinen Weg in die Klinik fand. Noch heute werden in der Patientendiagnostik die Möglichkeiten des Belastungs­EKG’s nicht voll genutzt, weil häufig aus Furcht vor Komplikationen die Belastung vor Auftreten von Beschwerden ab­gebrochen wird.
Die von Hollmann ermittelte O2­-Dauerleistungsgrenze oder Punkt des optimalen Wirkungsgrades der Atmung (2) ist Vorläu­fer der heute gebräuchlichen ventilatorischen und Laktatschwel­len. Insbesondere die Laktatmessung und deren Anwendung in der Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung ist ein Kind der deutschen Sportmedizin (7, 8, 11). Die VO2max als traditioneller Parameter zur Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit hat bekanntlich den entscheidenden Nachteil, von der jeweiligen Aus­belastung abhängig zu sein. Submaximale Parameter sind objek­tiver und auch sensitiver, um die im Hochleistungssport üblicher­weise geringen Veränderungen der Leistungsfähigkeit zu erfassen. Die Schwellendiskussion hat weltweit die leistungsphysiologische Forschung befeuert und ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Im deutschen Leistungssport hat die wissenschaftliche Begleitung des Trainings mittels Laktat ihren festen Platz.
Seit Jahrzehnten existiert in Deutschland ein strukturiertes sportmedizinisches Untersuchungs­ und Betreuungssystem, das ständig weiterentwickelt wurde. Bundeskaderathleten (A­, B­ und C­Kader) haben die Möglichkeit, sich einmal im Jahr in einem der derzeit 25 lizenzierten Untersuchungszentren des DOSB, meist sportmedizinische Universitätsinstitute, ausführlich präventiv­medizinisch checken zu lassen, gegebenenfalls auch verbunden mit einer Leistungsdiagnostik. Die medizinische Betreuung wäh­rend Training und Wettkampf erfolgt über Verbandsärzte oder mit den Olympiastützpunkten, Verbänden und Vereinen koope­rierenden sportmedizinisch versierten Ärzten. Leistungsphysiolo­gische Untersuchungen erfolgen sowohl im täglichen Training als auch bei zentralen Maßnahmen der Spitzenverbände, beispiels­weise Trainingslager.
Für die Tätigkeit als Verbandsarzt, insbesondere wenn diese in leitender Funktion agieren, hat die Medizinische Expertenkom­mission des DOSB Kriterien aufgestellt. Es scheint zunehmend schwieriger zu werden, geeignete Sportmediziner für die zeitauf­wendige Betreuungstätigkeit im Leistungssport zu finden. Was die sportmedizinischen Universitätsinstitute betrifft, die an der Nahtstelle zwischen Wissenschaft und Praxis arbeiten, ergab eine in diesem Jahrtausend durchgeführte Analyse beeindruckende Zahlen. Knapp 40 Mitarbeiter sportmedizinischer Universitätsins­titute waren durchschnittlich für jeweils mindestens zwei Wochen pro Jahr bei sportmedizinischen Betreuungsmaßnahmen (Training und Wettkampf) eingesetzt. Der Kostenausgleich erfolgte über den jeweiligen Verband oder über Urlaub und Eigenmittel der Institute. Was wäre, wenn diese Leistungen wegfielen?
Was nützt ein starker Motor, wenn die Karosserie rostet? Ohne sportorthopädisch erfahrene Ärzte und Physiotherapeuten wäre so manche Spitzenleistung nicht möglich gewesen. 8000 Laufkilome­ter pro Jahr oder 40 Stunden Triathlontraining pro Woche strapa­zieren den Bewegungsapparat und erfordern regelmäßige Pflege und Kontrollen. Werden Reparaturen notwendig, haben wir in Deutschland hervorragende Orthopäden und Unfallchirurgen, die minimalinvasiv Erstaunliches leisten. Bei diesem hohen Standard gibt es für deutsche Athleten keinen Grund, sich im Ausland be­handeln zu lassen.
Auch wenn es manche anders sehen, Doping ist keine Erfin­dung der Sportmedizin, aber wir werden ständig damit konfron­tiert. Der DÄSB hat sehr früh reagiert und sich bereits 1952 ein­deutig gegen Doping ausgesprochen. Die klare Anti­Dopinghaltung des DSÄB und der DGSP zieht sich wie ein roter Faden durch die vergangenen Jahrzehnte. In Zusammenarbeit mit dem DOSB wur­den 2007 verpflichtende Anti­Dopingseminare für alle im Leis­tungssport tätigen Ärzte eingeführt. Dennoch muss man wissen, worauf man sich einlässt, wenn man Leistungssportler ärztlich be­treut. Die Täter­Opfer­Rolle ist oft nicht eindeutig. Leistungsdruck und Kommerz, um nur zwei mögliche Ursachen zu nennen, brin­gen Sportler in Versuchung. Zu viel Nähe zum Athleten, vielleicht sogar Kumpanei verbunden mit dem Bestreben nach eigener Pro­filierung, wird für den Arzt zum schmalen Grat. Andererseits darf sich die Sportmedizin nicht ausschließlich als präventive und reha­bilitative Bewegungsmedizin verstehen. Sie muss sich auch ihrer Verantwortung für den Leistungssport stellen. Dazu gehören neben der Gesunderhaltung auch leistungsphysiologische Maßnahmen, damit die Athleten im Wettkampf jene Leistungen erreichen, zu der sie aufgrund ihres Talents und Trainings befähigt sind. Auch das ist ein Stück Anti­Doping!
Wie wird es mit der deutschen Sportmedizin im Leistungs­sport weitergehen? Es wäre fatal, würde sich die Sportmedizin aus dem Leistungssport zurückziehen. Nirgendwo lassen sich die Gren­zen der Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit besser studieren als an hochtrainierten Athleten. Wir wissen bisher noch zu wenig darüber, was auf molekularer Ebene passiert und welche Kandida­tengene die sportliche Höchstleistung beeinflussen. Auch die Rege­nerationsforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Das betrifft sowohl das Defizit an objektiven Kriterien zur Beurteilung des Re­generationsbedarfs als auch die Prävention von Überlastungsver­letzungen. Höhentraining ist im Spitzensport ein Dauerthema als natürliche Leistungsreserve, aber es nützt nicht jedem. Bisher exis­tieren keine validen Parameter, Non­Responder zu identifizieren.
Die medizinische Betreuung im Leistungssport ist zweifellos ein sensibles Feld. Dennoch muss sie auch zukünftig zu den sport­medizinischen Kernkompetenzen gehören. Aber jeder sollte wis­sen, der Sportmediziner definiert sich nicht als Leistungsbeschaf­fer, indem er die Moral als Luxus betrachtet.

LITERATUR

  1. Berg A, Lehmann M, Keul J Körperliche Aktivität bei Gesunden und Koronarkranken. Thieme, Stuttgart­-New York, 1986.
  2. Hollmann W Höchst­- und Dauerleistungsfähigkeit des Sportlers. Barth, München, 1963.
  3. Hollmann W, Rost R, Dufaux B, Liesen H Prävention und Reha­bilitation von Herz­-Kreislaufkrankheiten durch körperliches Training. Hippokrates, Stuttgart, 1983.
  4. Keul J, Doll E, Steim H, Homburger H, Kern H, Reindell H On me­tabolism oft he human heart. Pflügers Arch ges Physiol 282 (1965) 1 - 27.
  5. Keul J, Doll E, Keppler D Energy metabolism of human muscle. Kar­ger, Basel, 1972.
  6. Kindermann W, Keul J, Reindell H Grundlagen zur Bewertung leistungsphysiologischer Anpassungsvorgänge. Dtsch Med Wochenschr 99 (1974) 1372 - 1379.
    doi:10.1055/s-0028-1107950
  7. Kindermann W, Simon G, Keul J The significance of the aerobic­-anaerobic transition for the determination of work load intensities du­ring exercise training. Eur J Appl Physiol 42 (1979) 25­ - 34.
    doi:10.1007/BF00421101
  8. Mader A, Liesen H, Heck H, Philippi H, Rost R, Schürch P, Hollmann W Zur Beurteilung der sportartspezifischen Ausdauerleistungs­fähigkeit im Labor. Dtsch Z Sportmed 27 (1976) 80 - 88, 109 ­- 112.
  9. Reindell H, Klepzig H, Steim H, Musshoff K, Roskamm H, Schildge E Herz, Kreislaufkrankheiten und Sport. Barth, München, 1960.
  10. Rost R, Hollmann W Athlete’s heart – a review of its historical assessment and new aspects. Int J Sports Med 4 (1983) 147­ - 165.
    doi:10.1055/s-2008-1026028
  11. Stegmann H, Kindermann W, Schnabel A Lactate kinetics and individual anaerobic threshold. Int J Sports Med 2 (1981) 160­ - 165.
    doi:10.1055/s-2008-1034604
  12. Wahl P, Hägele M, Zinner C, Bloch W, Mester J High intensity training (HIT) for the improvement of endurance capacity of recreati­onally active people and in prevention & rehabilitation. Wien Med Wochenschr 160 (2010) 627 - 636.
    doi:10.1007/s10354-010-0857-3