Schrotschuss-Sportmedizin?
Scattershot Methods in Sports Medicine?
Wer aktiv in die sportmedizinische Betreuung von Leistungssportlern involviert ist, wird das Problem kennen: Athleten fordern diagnostische und/oder therapeutische Leistungen, die einer seriösen Begründung entbehren. Nicht selten berufen sie sich dann auf Personen des medizinischen Umfelds, die eine bestimmte Untersuchung als „besonders wichtig“ oder eine Substitution als „unbedingt erforderlich“ etikettiert haben. In einer solchen Situation ist es nicht immer einfach, standhaft zu bleiben und dem betreffenden Sportler zu erklären, dass man ein derartiges Vorgehen falsch oder gar als Humbug empfindet. Denn wer hat nicht gern ein ungetrübtes Verhältnis zu seinen SportlerPatienten? Auch wenn sich ein derartiges Phänomen auf vielen Ebenen wiederfindet, scheinen doch zwei Bereiche besonders angetan dafür: die Labordiagnostik aus dem Blut und die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln.
Viele Menschen assoziieren mit einer Blutentnahme und den aus der nachgeschalteten Diagnostik resultierenden Informationen geradezu universelle Aussagemöglichkeiten über die menschliche Gesundheit und den aktuellen „Status“ des Organismus. Weder Athleten noch Trainer stellen hier eine Ausnahme dar. So hört man nicht von ungefähr im Leistungssport immer wieder die Forderung, doch einmal Blut zu entnehmen, um die aktuelle Belastbarkeit oder gar den Grad der „Übersäuerung“ zu beurteilen. In diesen Glauben an die weit reichende Aussagekraft der Blutdiagnostik gehört auch die Frage, warum Dopingkontrollen nicht ausschließlich anhand von Blutentnahmen erfolgen. Eine Belastbarkeitsdiagnostik auf der Basis von Blutwerten unter seriösen Vorgaben kaum möglich ist, weiß zwar jeder solide ausgebildete Sportmediziner. Und dass Urin einige Vorteile in der Dopinganalytik besitzt, ist auch kein Geheimnis. Dennoch werden wir immer wieder mit derartigen Erwartungen konfrontiert.
Insofern ist es kontraproduktiv, wenn in sportmedizinischen Settings zu Screeningzwecken Blutentnahmen erfolgen, aus denen Konzentrationen von Vitaminen, Spurenelementen und andere nicht etablierte Parameter bestimmt werden, deren Referenzbereiche undefiniert sind oder an fraglichen Populationen gewonnen wurden. Allzu häufig führt das zu einer Defizitdiagnostik, die jeder Grundlage entbehrt, aber von Athleten gern angenommen wird. Führt sie doch zur Erklärung mancher Formschwäche oder – nach Behebung des vermeintlichen Defizits – zu vermuteten Vorteilen gegenüber der Konkurrenz.
Auch unbegründet häufige Blutentnahmen erfüllen den Tatbestand des schrotschussartigen Vorgehens. Selbst wenn Sportler hochfrequente Überprüfungen wünschen, gibt es keine medizinisch gerechtfertigte Veranlassung, in enger zeitlicher Folge Blutkontrollen aus reinen Screeningzwecken durchzuführen. Dass ein solches diagnostisches Vorgehen sogar zu einer „Diagnostikabhängigkeit“ führen kann, darf eine angemessene Leistungssportbetreuung nicht aus den Augen verlieren. Das vom DOSB für Kaderuntersuchungen festgelegte jährliche Untersuchungsprogramm stellt eine hinreichende Grundlage für das Screening beschwerdefreier Leistungssportler dar, die nicht ohne gute medizinische Gründe verlassen werden sollte.
Beim Thema „Nahrungsergänzung“ gibt es einige Enthusiasten, die sehr offensiv den Einsatz empfehlen. Ansonsten denken wohl viele: „Kann ja kaum schaden, und vielleicht besteht ja wirklich an der einen oder anderen Stelle ein Defizit.“ Das ist natürlich keine angemessene ärztliche Sichtweise, denn wo kämen wir hin, wenn Präparate auch auf anderen Sektoren unter solchen Vorgaben verordnet würden? Es stimmt auch nicht, dass kein Schädigungspotenzial besteht. Man muss nur an Interaktionen denken, an Vorerkrankungen wie Hämochromatose oder an die Möglichkeit von Überdosierungen („Viel hilft viel“, ist bestimmt kein seltener Gedanke bei Leistungssportlern). Eigentlich verfehlt selbst der Begriff der Polypragmasie die Praxis der Multi-Verordnung von Nahrungsergänzungsmitteln, setzt er doch implizit einen Behandlungsbedarf voraus.
Aber das vielleicht gravierendste Problem einer Schrotschussverordnung von Nahrungsergänzungen entsteht in der damit hervorgerufenen Mentalität, die von der entsprechenden Industrie natürlich allzu gern befördert wird: „Eine flächendeckende Substitution schützt vor allen Defiziten und Nachteilen gegenüber der Konkurrenz.“ Ich habe selbst erlebt, wie einer Juniorenfußballmannschaft in einem privatwirtschaftlich organisierten Zentrum eine Substitutionsempfehlung auf individueller Basis (Laborwerte!) gegeben wurde, die darin gipfelte, dass einem Sportler 10 (!) verschiedene Präparate binnen einer Woche empfohlen wurden ... Kommentar überflüssig!
Kommerziell interessierte Personen, aber gelegentlich auch Kollegen aus dem erweiterten Kreis der Sportmedizin sind leider manchmal nicht immun gegenüber solchen Anwandlungen. Es ist jedoch nicht akzeptabel, wenn aus Gründen der Sportlerbindung, der Selbstüberhöhung oder gar des privatwirtschaftlichen Gewinns Schrotschuss-Sportmedizin betrieben wird. Weder die inflationäre Erhebung von Screening-Labordaten ohne Indikation, noch die Verordnung einer Vielzahl an Supplementen ist mit seriösem sportmedizinischem Vorgehen vereinbar. Wir sollten uns dem aktiv entgegenstellen.