Die Retikuzytenzahl in der Sportmedizin: Physiologische und pathophysiologische Grundlagen
Reticulocyte Count in Sports Medicine: Physiological and Pathophysiological Principles
ZUSAMMENFASSUNG
Die Bestimmung der Retikulozytenzahl dient der orientierenden Beurteilung der Erythrozytenproduktion und der Erythrozytenlebenszeit in der klinischen Praxis. Heute verfügen alle großen Blutbildautomaten über die Möglichkeit der durchflußzytometrischen Retikulozytenzählung, so dass zuverlässige Messungen mit vertretbarem Zeitaufwand und zu akzeptablen Preisen möglich sind. Bei einer Anämie mit absolutem oder relativem Mangel an Erythropoietin ist der Anstieg der Retikulozytenzahl und die vorübergehende Verjüngung der Retikulozytenpopulation das früheste Zeichen der Regeneration der Erythropoiese nach therapeutischer Gabe von Erythropoietin, mit Verzögerung gefolgt von einem Anstieg der Hämoglobinkonzentration und des Hämatokrits. Diese seit langer Zeit bekannten klinischen Beobachtungen wurden, ergänzt durch experimentellen Studien bei gesunden Sportlern seit der Olympiade in Australien im Jahre 2000, auch für den indirekten Nachweis einer vermuteten manipulativen Verwendung von verbotenen Methoden, insbesondere der Gabe von Erythropoietin und verwandten Medikamenten in der Sportmedizin nutzbar gemacht. Die klinische Erfahrung zeigt allerdings, dass die pathophysiologisch korrekte Interpretation der Retikulozytenzahl häufig Probleme bereitet. Sie wird durch unterschiedliche Auswahl der in den Laborberichten enthaltenen Parameter und Unterschiede der von verschiedenen Automaten errechneten Indizes erschwert. In der Sportmedizin sind darüber hinaus weitere Einflussfaktoren wie die exakte Rekonstruktion des Zeitablaufs zwischen der vermuteten Erythropoietingabe und der Blutuntersuchung, sowie kontrovers beurteilte Effekte der Höchstbelastung von Bedeutung. An der Beweiskraft der Parameter der Modellrechnungen, die allein auf Retikulozytenzahlen beruhen, bestehen aus der Sicht der Hämatologie erhebliche Zweifel. Die vorliegende Übersicht beschreibt die methodischen Probleme der Retikulozytenzählung und ihre Interpretation im Kontext der klinischen Situation und des hämatologischen Laborprofils nach therapeutischer und experimenteller Gabe von Erythropoietin.
Schlüsselwörter: Anämie, Blutbild, Diagnostik, körperliche Belastung, Doping.
SUMMARY
In clinical practice, the reticulocyte count is the most useful method to estimate red cell life span and red cell production. Formerly, this was partly hampered by the low precision of manual counts. Today, this method is largely replaced by flow cytometry, available by almost all larger systems for automated blood count analysis, at low costs and sufficient analytic precision. This methodology permits an extended use of the reticulocyte count in the differential diagnosis of anemias. In pathological conditions resulting in anemia due to absolute or relative erythropoietin deficiency, an increase of the reticulocyte count and a transient immaturity of the reticulocyte population is the first evidence of erythropoietic regeneration, followed by a delayed increase of both the hemoglobin concentration and the hematocrit. These clinical observations, as well as experimental studies on healthy athletes performed after the Olympic Games in Australia in 2000, were used to create an indirect test to detect the use of blood doping in sports medicine, particularly by the prohibited use of erythropoietin and related medications before competitions. However, clinical experience shows frequent problems of the correct interpretation of reticulocyte parameters, due to variable reporting of results and use of different calculations of reticulocyte indices. Additional problems arise in doping controls, such as the exact timing of the suspected use of erythropoietin and the blood tests performed, as well as the possible influence of maximal physical strain per se. Here, we discuss the limits of the analytical methods and the problems of interpretation in the context of the laboratory profile in both the clinical setting and sports medicine.
Key words: anemia, diagnosis, method, physical exercise, doping.
EINLEITUNG
Die Bestimmung der Retikulozytenzahl im peripheren Blut ist die einfachste und zuverlässigste Methode zur orientierenden Beurteilung der Erythrozytenproduktion und der Erythrozytenlebenszeit in der klinischen Praxis (14). Sie ist neben der Bestimmung der Größe und der Hämoglobinbeladung der Erythrozyten entscheidend für die primäre Gruppenzuordung einer Anämie im Beginn des differentdialdiagnostischen Prozesses, nämlich für die Einteilung in Störungen der Erythroblastenbildung (Prototyp aplastische Anämie), ineffektive Erythropoiese (Prototyp megaloblastische Anämie) oder Verkürzung der Eythrozytenlebenszeit (Prototyp hämolytische Anämie). Bei den Diskussionen über den Nachweis von Blutdoping durch erythropoiesestimulierende Substanzen (ESAs) durch das Olympische Komitee bei der Sommer olympiade in Sidney im Jahre 2000 wurde erstmals die Retikulozytenzählung als empfindlichster Blutbildparameter einer akuten Stimulation der Erythrozytenbildung festgelegt und später von der World Antidoping Agency (WADA) als indirekter Nachweis der Verwendung von die Erythropoiese stimulierenden Substanzen anerkannt, unter denen das Erythropoietin (EPO) und davon abgeleitete Verbindungen die Hauptrolle spielen (2, 26, 27, 34). Begründet wurde dies konsequent mit der Schwierigkeit, exogenes (also nicht vom Körper selbst gebildetes) EPO, das vor einem Wettkampf appliziert wurde, im Serum oder Urin nachzuweisen, insbesondere da vor allem im Radsport immer neue, in der klinischen Medizin nicht zugelassene EPO-Verbindungen verwendet wurden, für die spezielle Nachweismethoden entwickelt werden mussten. wurden. Noch strittig ist bis heute, ob die Retikulozytenzahl in Verbindung mit anderen Blutbildparametern und den Zeitparametern des Wettkampfes allein als Beweis für Blutdoping gelten kann oder ob sie lediglich eine screening Methode darstellt, die zusätzliche Daten als Beweismittel erfordert.
In Deutschland wurde die Problematik wiederholt und kontrovers in den Medien diskutiert nachdem eine erfolgreiche deutsche Eisläuferin allein auf Grund von verdächtigen Retikulozytenwerten von der Teilnahme an internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen wurde. Kontrovers waren auch die Stellungnahmen von Hämatologen und Sportmedizinern, die im Rechtstreit vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) und dem von der Beklagten eingeschalteten Schweizer Bundesgericht abgegeben wurden. Die noch nicht rechtskräftigen Urteile lassen weitere Diskussionen erwarten. Im Folgenden werden deswegen die wichtigsten physiologischen und methodischen Grundlagen dargestellt, wobei überwiegend die aus der klinischen Hämatologie bekannten Erkenntnisse, aber auch neuere Daten aus der sportmedizinischen Literatur verwendet werden.
MESSMETHODEN
Als Retikulozyten werden neu gebildete Erythrozyten bezeichnet, in denen der RNA-Gehalt noch so hoch ist, dass er bei der Vitalfärbung mit basischen Farbstoffen durch RNA-Präzipitation eine feinkörnig-fädige Netzstruktur bildet. Die jungen, beim Gesunden 1–2 Tage alten Erythrozyten können im Mikroskop gezählt werden. Bei dieser u.a. von Heilmeyer (12) in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts bearbeiteten manuellen Methode werden Erythrozyten im Vollblut mit einem basischen Farbstoff wie Brillantkresylblau inkubiert, ausgestrichen und mikroskopiert (Abb. 1). Die kernlosen Erythrozyten mit dunkelblauen Farbniederschlägen werden als Anteil aller kernlosen Erythrozyten gezählt. Die manuelle Methode ist bei erheblich erhöhten Retikulozytenzahlen oder komplett fehlenden Retikulozyten als orientierende Methode heute noch vertretbar; bei niedrigen, normalen oder gering erhöhten Retikulozytenzahlen ist wegen zu geringer Präzision eine sichere Interpretation nicht möglich (30, 21). Eine wesentliche Erhöhung der Präzision im diagnostischen Routinebetrieb ergab sich aus einer alternativen Methode: der Anfärbung der RNA mit Fluoreszenzfarbstoffen wie Auramin oder Acridinorange oder absorbierenden Farbstoffen wie Oxazine und der Quantifizierung der so markierten Erythrozyten mittels Durchflußzytometrie. Heute verfügen alle großen Blutbildautomaten über die Möglichkeit der durchflußzytometrischen Retikulozytenzählung, so dass präzise Messungen in allen größeren Laboratorien mit vertretbarem Zeitaufwand und zu akzeptablen Preisen möglich sind (32, 28, 21). Diese Methoden sind geräteabhängig unterschiedlich, liefern aufgrund der um ein Vielfaches höheren Zahl der beurteilten Zellen aber mit höher Präzision vergleichbare Ergebnisse, die sich sowohl im Normalbereich und als auch bei verminderten und hohen Retikulozytenzahlen nicht wesentlich von der manuellen Methode unterscheiden (4). Es gibt allerdings seltene inhärente Fehlerquellen der Bestimmung in Automaten, wie die Mitanfärbung von verschiedenen Einschlüssen (z.B. Jollykörperchen) oder die Situationen, in denen sich Erythrozyten und Thrombozyten nicht sicher durch ihre Größen unterscheiden lassen, wie bei Krankheiten mit sehr großen und vermehrten Thrombozyten (z.B. essentielle Thrombozythämie). In diesen Fällen ist die Kontrolle mit der manuellen Methode nötig, ebenso immer die Plausibilitätsprüfung durch einen hämatologisch versierten Labormediziner.
Unhabhängig von der Zählmethode wird die Retikulozytenzahl konventionellerweise als relative Retikulozytenzahl, d.h. in Prozent der Erythrozyten (in Deutschland häufig auch noch in Promille) oder absolut (z.B. in 109/L oder /nL) angegeben. In der sorgfältigen manuellen Zählung ermittelte Referenzwerte für die Retikulozyten (95 % Konvergenzbereich) liegen zwischen 0,5 bis 2,5 % bzw. 30 bis 100 109/L (21). Die mit Automaten ermittelten Normalwerte liegen nach verwendetem Farbstoff und den Fenstereinstellungen teilweise etwas höher. Deswegen sollten die von den Geräteherstellern angegebenen Referenzwerte verwendet werden. Obwohl die jeweiligen Zahlen durch Multiplikation oder Division mit der Erythrozytenzahl errechnet werden können, wird im Laborbefund eine Angabe beider Werte (Prozentwert und absolute Retikulozytenzahl) unter Angabe der jeweiligen Referenzbereiche der Hersteller empfohlen. Die relative Retikulozytenzahl soll wegen Verwechslungsgefahr und Fehlangaben in Befundberichten nicht mehr in Promille, sondern ausschließlich in Prozent angegeben werden. Mit der heute möglichen hohen Präzision der Bestimmung ist die Voraussetzung geschaffen, die Retikulozytenzahl als einen wesentlichen Parameter zur pathophysiologisch orientierten Differentialdiagnose der Anämien zu verwenden. Die praktische Erfahrung zeigt allerdings, dass sie trotz ihres hohen Aussagewertes bei Anämien zu selten verwendet wird und die pathophysiologisch korrekte Interpretation Probleme bereitet (14, 31). Insbesondere wird häufig übersehen, dass die Beurteilung der normalen oder nicht normalen Funktion der Erythropoiese durch die Retikulozytenzahl nur unter Berücksichtigung der Hämoglobinkonzentration oder des Hämatokrits möglich ist.
Bei beiden Methoden (Mikroskopie als auch Durchflußzytometrie) kann nicht nur die Zahl der Retikulozyten, sondern auch die Verteilung der Reifestufen innerhalb der Retikulozytenpopulation erfasst werden. Während von Heilmeyer und Westhäuser (12) aufgrund der Morphologie vier Reifungsstufen unterschieden wurden, werden bei der Bestimmung in Blutbildautomaten drei Reifungsstufen unterschieden (6, 32), die als prozentuale Anteile der Retikulozytenpopulation angegeben werden. Aus der Verteilung der drei Reifungsklassen kann der Retikulozyten-Reifungsindex (=Reticulocyte Maturation Index (RMI)) (6) berechnet werden. Sowohl die Abgrenzung der drei Reifungsklassen als auch die Ableitung des RMI aus deren Verhältnis ist allerdings unterschiedlich und geräteabhängig (7). Häufig verwendet wird ein Index, der allein aus dem Verhältnis der unreifsten Retikulozytenfraktion zur Gesamtzahl der Retikulozyten berechnet wird und als Immature Reticulocyte Fraction (IFR) bezeichnet wird. Die IFR ist wegen der transparenten Berechnung dem RMI vorzuziehen. Da geeignete Referenzmaterialien zur Kalibrierung der Retikulozytenfraktionen nicht zur Verfügung stehen, ist der Nutzer auf Herstellerangaben angewiesen.
Die Verteilung der Reifungsgrade der Retikulozyten (RMI oder IFR) zeigt keine eindeutige Korrelation mit der Erythrozytenproduktion oder der Verkürzung der Erythrozytenlebenszeit, weist aber unter nicht steady state-Bedingungen frühzeitig auf eine beginnende Regeneration nach Suppression der Erythropoiese hin. Beispiele sind die frühe Regenerationsphase der aplastischen Anämie nach immunsuppressiver Behandlung oder nach chemotherapieinduzierter Suppression der Erythropoiese.
Zusätzliche Parameter wie der mittlere Hämoglobingehalt der Retikulozyten oder das mittlere Retikulozytenvolumen (36) dienen nicht der Abschätzung der effektiven Erythrozytenproduktion, sondern der frühzeitigen Erkennung eines funktionellen Eisenmangels, insbesondere unter Therapie mit EPO.
INTERPRETATION DER ERGEBNISSE
Die relative Retikulozytenzahl erlaubt im steady state bei chronischen Anämien eine Abschätzung der Verkürzung der Erythrozytenlebenszeit und ist der Verkürzung der Erythrozytenlebenszeit umgekehrt proportional.
Die absolute Retikulozytenzahl ist dagegen ein Maß für die effektive Erythrozytenproduktion des Knochenmarks sowohl unter steady state-Bedingungen, als auch unter den Bedingungen der aktuellen Verminderung oder Erhöhung der Erythrozytenproduktion (13).
Die Interpretation der relativen und absoluten Retikulozytenzahl ist erschwert durch die Tatsache, daß bei stärkerer Anämie mit einer Erhöhung des Erythropoietinspiegels die jungen Erythrozyten das Knochenmark früher als sonst verlassen. Während bei reifen Retikulozyten die RNA ca. innerhalb eines Tages abgebaut wird und der Erythrozyt nicht mehr als Retikulozyt gezählt werden kann, verschwindet die RNA von sehr jungen Retikulozyten erst nach bis zu 3 Tagen. Ein erhöhter Retikulozytenwert kann damit nicht nur die Verkürzung der Erythrozytenüberlebenszeit und die erhöhte Produktion von Erythrozyten im Knochenmark, sondern zusätzlich die verlängerte Verweildauer als Retikulozyt im Blut spiegeln (17). Deswegen wird ohne Korrektur der verlängerten in vivo-Reifungszeit mit zunehmender Anämie die Erythrozytenlebenszeit, beurteilt durch die relative Retikulozytenzahl, unterschätzt, die Erythrozytenproduktion beurteilt durch die absolute Retikulozytenzahl, überschätzt. Eine Korrektur ist durch die Berücksichtigung der angenommenen Verlängerung der Retikulozytenreifungszeit möglich. Da diese nicht direkt gemessen werden kann, werden dafür Werte eingesetzt, die bei Phlebotomieversuchen an gesunden Freiwilligen gewonnen wurden (16, 18) (Tab.1).
Beim Retikulozytenproduktionsindex (RPI) wird die relative Retikulozytenzahl in %, korrigiert durch das Ausmaß der Anämie (aktueller Hämatokrit im Verhältnis zum Ideal-Hämatokrit (0.45). und die Verweildauer der Retikulozyten im Blut berechnet. Hierbei wird ein linearer Zusammenhang angenommen, der nur eine grobe Näherung an die wahren Verhältnisse darstellt:
Der RPI gibt die Steigerung oder Verminderung der Erythrozytenproduktion anschaulich als Vielfaches der Norm wieder. Er kann nicht verwendet werden, wenn eine Veränderung der Knochenmark-Blutschranke wie bei Myelofibrose vorliegt, bei der unabhängig von Erythropoetin unreife Retikulozyten und Erythroblasten in das periphere Blut ausgeschwemmt werden.
Um Zustände mit gestörter Erythropoiese zu beurteilen, ist die Bewertung der Retikulozytenzahl und der RPI allein nicht ausreichend. Zu beurteilen ist vielmehr, ob das Knochenmark auf eine Anämie mit einer adäquaten, durch Erythropoietin vermittelten Steigerung der Erythrozytenproduktion reagiert oder nicht. Diese Beurteilung ist lediglich aus den Umsatzdaten der Phlebotomieexperimente und Erfahrungswerten bei verschiedenen Krankheitsgruppen möglich, bei denen die effektive Erythrozytenproduktion aus Eisenstoffwechseldaten (16) oder der Bestimmung der Erythrozytenlebenszeit berechnet wurde. Danach kann die effektive Erythrozytenproduktion bis über das 10-fache der Normalproduktion gesteigert werden. Approximative für die bei verschiedenen Anämiegraden zu erwartenden Werte der absoluten Retikulozytenzahlen und der RPI-Werte bei normaler Markfunktion finden sich in Tabelle 2. Eindeutig darunter liegende Werte sind ein Hinweis auf eine gestörte Markfunktion durch Hypoplasie oder Ineffektivität der Erythropoiese.
RETIKULOZYTENWERTE UND IHRE BEURTEILUNG BEI VERSCHIEDENEN ANÄMIEFORMEN
Eine Anämie, d.h. eine Absinken der Hämoglobin- oder Hämatokritwerte unter die alters- und geschlechtsspezifischen Referenzbereiche, wird verursacht durch eine verminderte oder in effektive Erythropoiese oder eine Verkürzung der Verweildauer im peripheren Blut (Erythrozytenüberlebenszeit) durch Hämolyse oder Blutung.
Aregenerative Anämien mit verminderter Erythroblastenbildung
Beispiele sind aplastische Anämie, Markinfiltration bei hämopoetischen Neoplasien, passagere Aplasie bei Virusinfektionen, in der Phase der Zytopenie nach Zytostatikatherapie oder renale Anämie vor Erythropoietinbehandlung. Die relative Retikulozytenzahl ist vermindert oder normal, die absolute Retikulozytenzahl ist vermindert, der RPI liegt unter 1.
Anämien durch Ineffektive Erythropoiese
Mit diesem Begriff werden Zustände bezeichnet, bei denen die Bildung erythropoietischer Vorläuferzellen aus dem Stammzellspeicher aufgrund der Anämie und der daraus resultierenden Erhöhung der Erythropoietinproduktion erhöht ist, durch gesteigerte Apoptose oder Störungen der Zellreifung die Produktion von Erythrozyten aber trotzdem vermindert ist. Beispiele dafür sind die Thalassämien, megaloblastäre Anämien durch Vitamin B12- oder Folsäuremangel oder Myelodysplastische Syndrome (MDS). Die absoluten Retikulozytenzahlen sind fast immer vermindert, oder trotz ausgeprägter Anämie nicht oder nur geringfügig erhöht, der RPI liegt meist zwischen 1,0 und 1,5.
Hämolytische Anämien
Beispiele für Anämien mit normaler Markfunktion sind die chronischen hämolytischen Anämien oder Anämien durch Blutverlust, solange kein schwerer Eisenmangel eingetreten ist (18). Chronische hämolytische Anämien zeigen immer eine Erhöhung sowohl der relativen als auch der absoluten Retikulozytenzahl, im Extremfall bis zu 80 % oder über 1000 G/l. Der RPI liegt immer über 2 und kann bei ausgeprägter chronischer Hämolyse bis auf etwa 10 ansteigen. Liegt der Hämoglobinwert im Referenzbereich und sind die absoluten und/oder relativen Retikulozytenzahlen mehrmals bestimmt erhöht, so besteht der Verdacht auf eine kompensierten Hämolyse, wobei alle Krankheiten in Frage kommen, die auch als Ursachen für hämolytische Anämien differentialdiagnostisch abgeklärt werden.
durch die Verschiebung unreiferer Retikulozytenformen aus dem
Knochenmark ins periphere Blut bestimmt. Die eingangs erwähnte
Korrektur durch Bildung des Retikulozytenproduktions-Indexes ist
im steady state sinnvoll, sagt aber über die komplex gesteuerte Anstiegsrate nichts aus.
Bei der häufigsten hämolytischen Anämie, der hereditären Sphärozytose, liegen die relativen Retikulozytenzahlen im Mittel bei 10 % (28) mit einer Spannweite von 3 bis 25 %, der RPI zwischen 2 und 15. In einer neueren Arbeit mit Bestimmung in Automaten ist bei Einbezug von Fällen mit geringer Expression die Spannweite mit 9 bis 909 G/l noch weit höher (22). Extrem hohe Werte werden bei einzelnen Patienten mit Pyruvatkinasemangel (35) und bei autoimmunhämolytischen Anämien (AIHA) beobachtet.
Blutungsanämien
Etwa eine Woche nach akuter Blutung steigen relative und absolute Retikulozytenzahlen im Verhältnis zum Blutverlust an und erreichen Werte bis über 10 %, entsprechend einem RPI von bis zu 5 (15). Ähnliche Werte beobachtet man bei chronischer Blutung, solange ausreichend Eisen vorhanden ist, niedrigere Werte aufgrund einer nicht optimalen Funktion der Erythropoiese beim Eisenmangel (18).
Anämien bei chronischen Erkrankungen (Anemia of chronic disorders, ACD)
Dieser auch als Entzündungsanämien bezeichneten, in der Praxis häufigsten Anämieform liegen verschiedene Mechanismen zugrunde Eine Hemmung der Eisenaufnahme und Eisenverwertung durch inflammatorische Zytokine, eine nichtadäquate Erythropoietinbildung und die direkte Hemmung der Erythropoiese durch Stoffwechselprodukte von Bakterien oder malignen Zellen, gegebenenfalls auch nicht entdeckte Blutverluste. Dementsprechend sind die Retikulozytenwerte unterschiedlich. Sie liegen meist im gemessen am Grad der Anämie unteren Bereich mit normalen relativen und verminderten oder nur gering erhöhten absoluten Retikulozytenzahlen und RPI-werten zwischen 0,5 und 1.
Retikulozytenkrisen
Die vorstehenden Interpretationen gelten im Wesentlichen für Zustände im steady state. d.h. für Anämien , bei denen sich nach Wochen oder Monaten ein pathologisches Gleichgewicht eingestellt hat. Bei rasch einsetzender Anämie, z.B. nach Blutverlusten, wird die Erythropoietinproduktion auf Grund der absinkenden Sauerstoffkonzentration in den juxtaglomerulären Zellen der Niere kurzfristig gesteigert und durch Mehrbildung von Erythroblasten und konsekutiv von Erythrozyten wieder ausgeglichen. Die relativen und absoluten Retikulozytenzahlen steigen innerhalb von 3–5 Tagen vorübergehend an und kehren nach Ausgleich des Hämoglobindefizits wieder zur Norm zurück. Dasselbe sieht man bei Normalisierung einer gestörten Funktion der Erythropoiese, z.B. nach Substitution eines Vitamin-B12-Mangels mit megaloblastärer Anämie und vorbestehender Erhöhung des Erythropoietins. Der vorübergehende Retikulozytenanstieg beginnt hier etwa 4 Tage nach Vitamingabe und erreicht den Höhepunkt nach einer Woche, wobei bei schwerer Anämie durchaus relative Werte von 10 % erreicht werden können. Vergleichbare Zeitrelationen erkennt man auch nach Erstbehandlung einer renalen Anämie bei einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz (9, 19) und bei der Erythropoietinbehandlung in der Onkologie. Kinetik und Ausmaß des Retikulozytenanstiegs wird dabei nicht nur von der Steigerung der effektiven Produktionsrate der neugebildeten Erythrozyten, sondern auch durch die Verschiebung unreiferer Retikulozytenformen aus dem Knochenmark ins periphere Blut bestimmt. Die eingangs erwähnte Korrektur durch Bildung des Retikulozytenproduktions-Indexes ist im steady state sinnvoll, sagt aber über die komplex gesteuerte Anstiegsrate nichts aus.
DOPING DURCH ERYTHROPOIETIN
Aufgrund der Schwierigkeit, Erythropoiese stimulierende Medikamente zum Zeitpunkt eines Wettkampfes noch in Körperflüssigkeiten nachzuweisen wurden Retikulozytenzahlen als indirekte Nachweismethode nach der Olympiade in Australien eingeführt (34) und Modellrechnungen entwickelt, die die Anwendung verbotener Methoden zur Leistungssteigerung aufdecken sollen (27, 26). Sie basieren auf einer Studie bei experimenteller EPO-Applikation bei freiwilligen, langzeitig trainierenden Sportlern, allerdings an einer kleinen Zahl von nur 18 Probanden und 9 Kontrollen (26). Dabei stiegen die relativen und absoluten Retikulozytenzahlen nach 12maliger Gabe von 50 Einheiten pro kg Körpergewicht auf das doppelte des Ausgangswertes an, gefolgt von einem Anstieg des Hämoglobin- und Hämatokritwertes; sie fielen 2 bis 4 Wochen nach Beendigung der EPO-Gabe auf Werte unter den Ausgangswert ab, während die erhöhten Hämoglobinwerte persistierten. Die Ergebnisse sind mit den klinischen Beobachtungen und älteren Beobachtungen bei freiwilligen Amateusportlern (5) kompatibel. Aus den Ergebnissen wurde ein Modell entwickelt, in dem sich der Nachweis einer EPO-Gabe vor dem Wettkampf und der vermuteten EPO-Gabe sowohl auf die Anstiegsperiode („on“) als auch auf die Nachbeobachungsperiode („off “) stützt, und das erstmalig im Falle der oben erwähnten deutschen Eisläuferin für sich allein zu einer Wettkampfsperre führte.
Anstiege der Retikulozytenzahl bei Leistungssportlern ausserhalb von steady state-Bedingungen ohne vermutete oder nachgewiesenen EPO-Gabe wurden in der sportmedizinischen Literatur ausgiebig und kontrovers diskutiert. Die meisten (11, 29, 2, 10, 20), aber nicht alle Beoachtungen (5, 23, 33, 8) zeigten eine fehlende Wirkung akuter oder längerdauernder sportlicher Hochbelastung auf die effektive Erythrozytenbildung und die Retikulozytenzahl als früher Marker einer Stimulation der Erythropoiese.
Bei der Beurteilung der Retikulozahl zum indirekten Nachweis sind weitere Einflussfaktoren zu beachten. Dazu gehört die Qualitätskontrolle der Laborergebnisse (3), der Einfluss des Trainings in Höhenlage (25), die Beachtung der exakten Zeitpunkte des Wettkampfes und Trainings und der Probenabnahme (24), der schwierige Nachweiss einer mechanischen Hämolyse (1) und schliesslich der Auschluss einer nicht bekannten vorbestehenden kompensierten hämolytischen Erkankung.
FAZIT
Die Beweiskraft des indirekten Nachweises von EPO-Doping durch die Ergebnisse der Retikulozytenzählung allein wurde im Falle der betroffenen Eisläuferin kontrovers in den Medien und in gerichtlichen Auseinandersetzungen diskutiert. Die Erfahrungen aus der klinischen Hämatologie und die Ergebnisse der sportmedizinischen Studien zeigen, wie komplex die pathophysiologische Analyse erhöhter Retikulozytenzahlen ist. An der Beweiskraft der Parameter der Modellrechnungen, die allein auf Retikulozytenzahlen beruhen, bestehen weiterhin erhebliche Zweifel.
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Prof. emerit. Dr. med. Hermann Heimpel
Medizinische Klinik III
Zentrum der Inneren Medizin
Universitätsklinikum Ulm
Albert-Einstein-Allee 23
89081 Ulm
E-Mail: hermann.heimpel@uniklinik-ulm.de