Sportmedizin
EDITORIAL

Einschränkungen des Hocheistungssports durch muskuloskelettale Probleme

Limitations in Top-Level Sports due to Musculoskeletal Problems

Die Trainierbarkeit des kardiopulmonalen Systems im Hochleistungssport scheint heute – auch dank der umfassenden internistisch-sportmedizinischen Betreuung – nahezu unbegrenzt zu sein. Im Gegensatz hierzu ist die Belastbarkeit des muskuloskelettalen Systems eher limitiert und stellt bei vielen Sportarten, bei denen es wiederholt zu hohen biomechanischen Kraftspitzen kommt, nicht selten den eigentlich leistungssportbegrenzenden Faktor dar.

Einschränkungen im Kinder- und Jugendsport
Um Höchstleistungen in Sportarten erzielen zu können, bei denen das Leistungsmaximum sehr früh erreicht wird (z.B. weibliches Kunstturnen, Rhythmische Sportgymnastik, Eiskunstlaufen etc.), sind die Aufnahme eines leistungsorientierten Trainings im frühen Kindesalter und Trainingshöchstbelastungen auch in Zeiten hormoneller Umstellungen (Pubertät) erforderlich. Hierdurch verursachte negative Auswirkungen, in Form von langwierigen Verletzungsserien, temporären Wachstumsstörungen oder gar Osteonekrosen, werden zwar in der täglichen Praxis des orthopädischen Sportmediziners gelegentlich gesehen, die wirklichen Ursachen sind aber leider noch zu wenig erforscht. Selbst bereits vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse werden häufig erst mit deutlicher Zeitverzögerung im Trainingsprozess umgesetzt.
Weiterhin entzieht sich bislang weitgehend der wissenschaftlichen Betrachtung, wie viel körperliche Belastung zur sportartspezifischen Anpassung des muskuloskelettalen Systems im Hochleistungssports notwendig ist und wo die Grenze zur Überlastung beginnt. Die richtige Dosierung von biomechanischen Spitzen- und Dauerbelastungen für knöcherne und Gelenkstrukturen wie auch für Sehnen-Knochen-Übergange sollte daher mehr als bisher in den Fokus wissenschaftlicher Forschungsvorhaben gerückt werden.
So sollte es ureigenstes Interesse des Hochleistungssports sein, dass die führenden sportmedizinischen Zentren in Deutschland, die bereits über eine exzellente internistische und leistungsphysiologische Expertise verfügen, zukünftig auch sportorthopädisch mit ähnlicher klinischer und Forschungskompetenz ausgestattet werden. Dies setzt natürlich auch ein stärkeres orthopädischunfallchirurgisches Engagement auf diesem Gebiet voraus. Leider sehen derzeit die meisten ärztlichen Kollegen in der klinischen Orthopädie und Unfallchirurgie ein interessanteres Aufgaben- und Forschungsgebiet und betrachten die Sportmedizin eher als medizinisches Randgebiet.

Einschränkungen in der Hochleistungsphase
An den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking nahmen ca. 800 deutsche Athleten teil. Schon vor der Eröffnung gab es – zum Teil auch von prominenten Athleten – Absagen wegen schwerwiegender muskuloskelettaler Verletzungen. Während der Olympischen Spiele wurde das sportmedizinische Betreuungsteam vor Ort in hoher Frequenz wegen akuter Überlastungsbeschwerden des Haltungs- und Bewegungsapparates konsultiert, hinzu kamen unzählige Behandlungen bei Verletzungen durch das ärztliche und physiotherapeutische Team im Olympischen Dorf. Medienwirksam waren dabei insbesondere muskuloskelettale Verletzungen bei heißen Medaillenkandidaten wie Fabian Hambüchen, bei dem eine Fingerverletzung den „Verlust“ der schon sicher geglaubten Goldmedaille nach sich zog.
Da kein Datenmaterial vorliegt, bleibt ungeklärt, wie viele Sportlerinnen und Sportler im letzten Olympia-Zyklus wegen ernsthafter muskulo skelettaler Probleme entweder die Karriere beenden oder aber ihre Leistungsziele um weitere vier Jahre verschieben mussten. Ein zentrales Register dazu existiert weder beim DOSB noch in den einzelnen Fachverbänden. Neben mangelnder Dokumentation fehlt in der Regel auch die Aufklärung der jeweiligen Ursachen. Es stellt sich die Frage, ob wir uns bei einer ständig schwindenden Anzahl von leistungssportwilligen jungen Menschen diese fehlende Ursachenforschung im Hochleistungssport weiterhin erlauben können?

Welche Schlüsse sollten gezogen werden?
Orthopädische Untersuchungen zu Beginn des Leistungssports: Formal werden bisher keine öffentlichen Mittel für orthopädische Untersuchungen von Kindern zu Beginn ihrer leistungssportlichen Betätigung zur Verfügung gestellt. Erst wenn die Qualifikation für eine höhere Kaderstufe erreicht ist, werden auch orthopädische Untersuchungen durchgeführt. Wie viele Sportler bis dahin bereits ihre Leistungssport-Karriere beendet haben und/oder wie viele trotz angeborener und erworbener Fehlbildungen (z.B. Hüftdysplasie, Spondylolisthesis) Leistungssport betreiben, bleibt ungeklärt. Zudem werden mit diesen sportorthopädischen Untersuchungen häufig weniger erfahrene junge Kollegen beauftragt. Hier liegt in der kompetenten frühzeitigen Betreuung der Sportler und Anleitung der jüngeren Kollegen durch die in der Sportart erfahrenen ärztlichen Experten ein wesentliches Verbesserungspotential für die Zukunft.
Kontinuierliche Trainings- und Wettkampfbetreuung im Kindes- und Jugendalter: Die sportmedizinische, orthopädische Betreuung von Kinder- und Jugendsportgruppen ist nicht flächendeckend gelöst, einzelne regionale Lösungen bestätigen letztlich nur diesen Ansatz. Gerade bei Heranwachsenden bedarf das muskuloskelettale System jedoch einer kontinuierlichen, kompetenten orthopädischen Betreuung und Intervention bei auftretenden Problemen.
Überprüfung der Wettkampf- und Kaderregeln auf muskuloskelettales Gefährdungspotential: Inhalte von Kadertests, Wettkampfregeln und Qualifikationskriterien müssen sportartspezifisch auch unter orthopädischen Aspekten überprüft und hinsichtlich ihrer kurz- und mittelfristigen Folgen für die Haltungs- und Bewegungsorgane evaluiert werden. Völlig inakzeptabel ist, wenn es durch die vom Verband vorgegebenen Kadernormen zu identischen Verletzungen, z.B. zu Apophysenabrissen, bei mehreren Kadermitgliedern kommt und daraus keine Konsequenzen gezogen werden. Ebenso sollten die Veränderungen im Bewegungsapparat bei heranwachsenden Sportlern durch Anpassung der Wettkampfregeln sowie Mindestaltersgrenzen bei der Wettkampfzulassung berücksichtigt werden.
Kontinuierliche Trainings- und Wettkampfbetreuung in der Hochleistungsphase: Die Dezentralisierung im deutschen Hochleistungssport hat viele Vorteile, aber auch einige Nachteile. So kann eine hochspezialisierte ärztliche Betreuung der Athleten am Heimattrainingsort nicht immer gewährleistet werden – die Einrichtung überregionaler Kompetenzzentren sowie ein systematischer Ausbau der telemedizinischen Betreuung als möglicher Lösungsansatz steckt bei vielen Sportarten noch in den Kinderschuhen und sollte dringend aufgebaut werden.
Auch das muskuloskelettale System muss abtrainiert werden.Wenige wissenschaftliche Erkenntnisse liegen für kurz- und längerfristige Empfehlungen zum muskuloskelettalen „Abtrainieren“ vor. Das fehlende Training und die dann zwangsläufig abnehmende Muskulatur können mit einer reduzierten Stabilisierung von Gelenken und insbesondere der Wirbelsäule einhergehen und somit zu höhergradigen, langwierigen Problemen bei ehemaligen Leistungssportlern führen. Hier eine Handlungsempfehlung zu entwickeln, die vom jeweiligen Sportfachverband unterstützt und von orthopädischen Sportmedizinern mitbetreut wird, erscheint eine lohnenswerte Aufgabe, auch um den Betreffenden ein weiteres langfristiges Sporttreiben zu ermöglichen.

Welche wissenschaftlichen Anstrengungen müssen unternommen werden?
Das Wissen über die Belastbarkeit des muskuloskelettalen Systems zu den verschiedenen hormonellen und skelettalen Entwicklungsstufen des potenziellen Hochleistungssportlers muss durch gezielte Forschungsprojekte ausgebaut und in die Trainings- und Wettkampfpraxis überführt werden. Dazu ist es notwendig, entsprechende Projektmittel für die sportorthopädische Forschung bereitzustellen. Die Forschung sollte ihren Fokus nicht nur überwiegend auf „Reparaturmaßnahmen“ am Stütz- und Bewegungsapparat richten, sondern das Wissen um die Belastbarkeit und die Prävention negativer Auswirkungen bei sporttreibenden Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen in den Mittelpunkt rücken.
Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen unverzüglich in den Sport- und Trainingsalltag integriert und den betreuenden Kollegen in der Praxis vermittelt werden. So ist es schwer verständlich, dass zum Beispiel wichtige Erkenntnisse über das femoroazetabuläre Impingement am Hüftgelenk immer noch nicht breit im Wissen der sportärztlichen Kollegen verankert sind und es häufig nach wie vor zu klassischen ärztlichen Fehlinterpretationen („Adduktorenzerrung, weiche Leiste“) mit teilweise fatalen Folgen kommt. Hier muss dringend eine enge Verbindung zwischen hochspezialisierten orthopädischen Einrichtungen und den in der Sportmedizin tätigen Kollegen geschaffen werden.
Im Hochleistungssport werden heute bereits viele Erkenntnisse aus der gesamten Sportmedizin zur Leistungsförderung und zur Gesunderhaltung der Athleten eingesetzt. Sportlerinnen und Sportler, die sich zur Erreichung des persönlichen Leistungsmaximums härtesten Trainingsanforderungen unterziehen, sollten jedoch auch sportorthopädisch so unterstützt werden, dass sie diese Ziele ohne Limitierung durch das muskuloskelettale System und ohne entsprechende Folgeschäden erreichen können.

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